Der jüngere Sokrates:Ganz richtig.
Fremder:Wie kann also unsere Erklärung des Königes sich richtig und untadelhaft erweisen, wenn wir ihn den Hüter und Auferzieher der menschlichen Herde nennen, ihn allein heraushebend aus zehntausend anderen die sich mit ihm darum streiten?
Der jüngere Sokrates:Auf keine Weise.
Fremder:Also war unsere Besorgnis vorher gegründet, als wir argwöhnten, wir möchten zwar wohl einige Züge des Herrschers angeben, keinesweges aber könnten wir den Staatsmann genau dargestellt haben, bis wir alle welche sich um ihn herdrängen und auf das Mithüten Anspruch machen weggeräumt, und ihn abgesondert von jenen ganz rein für sich allein hinstellen.
Der jüngere Sokrates:Vollkommen gegründet freilich.
Fremder:Dies also, o Sokrates, müssen wir bewerkstelligen, wenn wir nicht unsere Erklärung zuletzt wollen zu Schanden machen.
Der jüngere Sokrates:Das darf ja auf keine Weise geschehen.
Fremder:Also müssen wir wiederum von einem andern Anfang aus einen andern Weg gehen?
Der jüngere Sokrates:Was doch für einen?
Fremder:Wo wir auch wohl Scherz einmischen. Denn wir müssen einen ziemlichen Teil einer großen Geschichte zu Hülfe nehmen, und hernach eben wie vorher, indem wir einen Teil nach dem andern wegnehmen, zu dem eigentlich gesuchten selbst gelangen. Sollen wir das?
Der jüngere Sokrates:Allerdings.
Fremder:Aber auf die Geschichte sei mir ja recht aufmerksam wie die Kinder. Du bist ja doch erst seit wenigen Jahren über die Kindheit hinaus.
Der jüngere Sokrates:Sage nur.
Fremder:Solche alten Erzählungen also gab es und wird auch noch geben gar viele andere, und so auch die Erscheinung bei dem Streit welcher vorgefallen sein soll zwischen Atreus und Thyestes. Denn du hast doch gehört und erinnerst dich, was sich damals soll ereignet haben?
Der jüngere Sokrates:Das Zeichen von dem goldenen Lamme meinst du vielleicht.
Fremder:Nein das nicht, sondern das von der Änderung (269) im Auf- und Untergang der Sonne und der andern Gestirne, daß sie nämlich von wo sie jetzt aufgehen, dorthin damals untergingen, und aufgingen auf der entgegengesetzten Seite. Damals aber gab Gott dem Atreus ein Zeugnis, und wendete sie um in die gegenwärtige Ordnung.
Der jüngere Sokrates:Erzählt wird freilich auch das.
Fremder:Und auch von der Herrschaft welche Kronos führte haben wir von Vielen gehört.
Der jüngere Sokrates:Von gar Vielen.
Fremder:Und wie, daß vorher die Menschen als Erdgeborne entstanden und nicht erzeugt wurden einer von dem andern?
Der jüngere Sokrates:Auch das ist eine von den alten Sagen.
Fremder:Dies nun rührt insgesamt von demselben Umstände her, und außerdem tausenderlei anderes noch wunderbareres, wovon aber die Länge der Zeit sich einiges ganz verlöscht hat und das übrige zerstreut erzählt wird, jedes einzelne abgerissen von dem übrigen. Den Umstand aber, der an alle diesem Ursach ist, hat noch niemand erzählt. Jetzt aber muß er berichtet werden, denn zur Darstellung des Königes wird er sich uns wohl schicken, wenn er erzählt ist.
Der jüngere Sokrates:Wohl gesprochen! erzähle also ohne etwas zu übergehen.
Fremder:Höre denn. Dieses Ganze hilft auf seiner Bahn bisweilen Gott selbst mitführen und wälzen, bisweilen läßt er es wieder los, wenn seine Umläufe das ihm gebührende Zeitmaß schon erlangt haben. Dann aber wendet es sich von selbst wieder um nach der entgegengesetzten Seite, als ein lebendiges dem auch Vernunft zugeteilt ist von dem welcher es ursprünglich zusammenfügte. Dieses Rückwärtsgehen aber ist ihm notwendig aus folgender Ursache natürlich.
Der jüngere Sokrates:Aus welcher denn?
Fremder:Sich immer einerlei und auf gleiche Weise zu verhalten und dasselbe zu sein, das kommt nur dem göttlichsten unter allem allein zu, körperliche Natur aber steht nicht in dieser Reihe. Was wir nun Himmel und Welt genannt haben, hat freilich vieles und herrliches von seinem Erzeuger empfangen; indes ist es auch Körpers teilhaftig geworden, daher ihm denn aller Veränderung schlechthin unerfahren zu sein unmöglich ist. Nach Vermögen jedoch wird es immer eben da auf gleiche Weise nach Einer Richtung bewegt. Daher ist es der Umwälzung teilhaftig als der kleinstmöglichen Abweichung von der Selbstbewegung. Sich selbst aber immer zu drehen ist keinem wohl leicht möglich als dem alles Bewegte Anführenden. Diesem ist aber nicht statthaft jetzt so, dann wieder entgegengesetzt zu bewegen. Nach diesem allen also darf man von der Welt weder behaupten, daß sie immer sich selbst drehe, noch daß sie immer ganz von Gott gedreht werde, sintemal es nach zweierlei und entgegengesetzten Richtungen geschieht, noch auch, daß etwa irgend zwei (270) Götter von einander entgegengesetzter Gesinnung sie drehen; sondern was eben gesagt ist und allein übrig bleibt, daß sie jetzt von einer andern göttlichen Ursache mitgeführt wird, das Leben aufs neue erwerbend und eine von dem Werkmeister ihr zubereitete Unsterblichkeit empfangend; dann aber, wenn sie losgelassen ist, von sich selbst geht, so gut sie kann, in einem solchen Zustande sich selbst überlassen, daß sie wiederum viele Myriaden von Umläufen rückwärts durchwandern kann, weil sie bei vollständigster Größe und Gleichgewicht auf dem kleinsten Fuße einherschreitend geht.
Der jüngere Sokrates:Sehr einleuchtend ist alles gesagt was du bis jetzt ausgeführt hast.
Fremder:So laß uns zusammenrechnend den Umstand betrachten der sich aus dem Gesagten ergibt, und von uns als die Ursache alles wunderbaren angegeben wurde. Dies ist nämlich folgender.
Der jüngere Sokrates:Was für einer?
Fremder:Daß nämlich die Bewegung des Ganzen bisweilen nach der Seite wohin es sich jetzt wälzt sich bewegt, bisweilen nach der entgegengesetzten.
Der jüngere Sokrates:Wie doch eigentlich?
Fremder:Diese Veränderung muß man von allen Umwendungen, welche sich am Himmel ereignen, für die größte und vollständigste halten.
Der jüngere Sokrates:Das scheint allerdings.
Fremder:Daher ist auch zu glauben daß alsdann die größten Veränderungen entstehen für uns, die wir innerhalb desselben wohnen.
Der jüngere Sokrates:Auch das ist wahrscheinlich.
Fremder:Viele wichtige und mannigfaltige Veränderungen aber welche zusammentreffen, wissen wir nicht daß die Natur der Lebenden diese nicht leicht erträgt?
Der jüngere Sokrates:Wie sollten wir das nicht?
Fremder:Die größten Verheerungen also entstehen alsdann notwendig sowohl unter den anderen Tieren, als auch von dem menschlichen Geschlecht bleibt nur weniges übrig. Und für diese Überreste treffen dann viele andere wunderbare und neue Ereignisse zusammen; dieses aber ist das größte und begleitet die Umwälzung des Ganzen notwendig alsdann, wenn die der bisher bestandenen entgegengesetzte Richtung eintritt.
Der jüngere Sokrates:Was für eines denn?
Fremder:Welches Alter jedes lebende Wesen hatte dies blieb ihm zuerst stehn, und alles sterbliche hörte auf je länger je älter auszusehn, vielmehr wendete es sich auf das entgegengesetzte zurück und wurde gleichsam jünger und zarter. Und die weißen Haare der Alten schwärzten sich, die Wangen der bärtigen aber glätteten sich wieder, und brachten jeden zu seiner schon vorübergegangenen Blüte zurück; eben so die Leiber der mannbaren Jugend glätteten sich und wurden jeden Tag und jede Nacht kleiner, bis sie wieder die Natur der kleinen Kinder annahmen, und ihnen an Leib und Seele ähnlich wurden. Nach diesem aber welkten sie dann zusehends und verschwanden gänzlich. Ja auch die Leichname der zur selbigen Zeit gewaltsam verstorbenen trafen die nämlichen Zufälle der Reihe nach insgesamt, so daß sie sich in der Schnelligkeit in wenigen Tagen verzehrten.
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