Aurélie deutet meine Reaktion offenbar falsch und beeilt sich zu sagen: „´ör mal, es tut mir leid, dass isch so un’öflisch war. Isch vertraue die Menschen einfach nischt mehr so schnell wie früher einmal. Aber du scheinst wirklisch nett zu sein. Entschuldige bitte.“
„Nein, nein, das ist es nicht. Alles gut. Das hab ich wirklich gern gemacht.“, antworte ich. Nach den letzten beiden Tagen liegen meine Nerven so blank, dass ich etwas länger brauche, um mich wieder zu fangen. Meine Stimme zittert und die Tränen, die ich sonst immer so gut zurückhalten kann, schießen mir wie kleine Sturzbäche in die Augen.
„Wenn ich euch zwei zusammen sehe, muss ich nur immer an meine eigene Mutter denken. Leider war unser Verhältnis nicht so gut wie eures. Ich habe zu spät erkannt, was für ein toller Mensch sie war und ich schätze, ich habe sie nicht besonders fair behandelt. Ich wünschte, ich hätte ihr deutlicher gezeigt, wie wichtig sie für mich ist.“, erkläre ich meinen unpassenden Gefühlsausbruch.
Ich setze mich auf einen der Stühle am Esstisch und versuche, mich zu beruhigen. Aurélie zieht sich einen Stuhl zu mir heran und nimmt ebenfalls Platz. „Du musst dir keine Vorwürfe machen. Glaub mir, sie ´at es gewusst. Du warst die Liebe ihres Lebens und sie ´ätte dir ohne´in alles verziehen.“
Sie legt mir tröstend die Hand aufs Knie und schmunzelt ein wenig:
„Das ist die Kreuss, die alle Eltern tragen müssen, weißt du. Isch bin sischer, eines Tages wirst du das verstehen.“
Dann steht sie plötzlich wieder auf und sieht sich voller Tatendrang im dunklen Zimmer um: „So, isch weiß nischt, wie es eusch geht, aber isch muss jetzt erstmal was essen!“
„In der Küche steht noch Milchreis auf dem Herd.“, lasse ich sie wissen.
„Oh, mon dieu! Du, chérie, bist eine Engel!“
Mit diesen Worten läuft sie durch die kleine Seitentür in Richtung Küche und kurz darauf hören wir das eifrige Klappern von Geschirr. Ich sehe zu Günter herüber, der sich an die andere Seite des Tisches gesetzt hat. Jetzt erst fällt mir auf, wie blass und übermüdet er aussieht. Seine Hände zittern und auf seiner Stirn glitzern ein paar kleine Schweißperlen, obwohl es im Haus nun wirklich nicht besonders warm ist.
„Ist soweit alles in Ordnung?“, frage ich besorgt.
Ich kann in seinem Gesicht ablesen, wieviel Kraft es ihn kostet, sich zusammenzunehmen und mir in die Augen zu sehen: „Ja, es geht schon. Ich habe in meinem Leben schon wirklich viel gesehen, aber mit einigen Dingen werde ich wohl nie klar kommen.“
„Ich finde, mit einigen Dingen sollte man auch nicht klarkommen müssen.“, erwidere ich verständnisvoll. Aurélie, die mit einem Tablett mit drei dampfenden Tellern in der Tür steht, eilt zu uns herüber und stellt einen Teller vor Günter auf den Tisch. Dann drückt sie ihm einen Löffel in die Hand und ordnet liebevoll an: „Jetzt isst du erst einmal etwas und dann geht es `usch `usch in die Bett, non?“
„Ja, Madame.“, antwortet Günter und löffelt brav seinen Milchreis.
Ich war der festen Überzeugung, nicht einen Bissen herunterzubekommen, aber sobald der Teller vor mir steht, meldet sich mein vernachlässigter Magen und ich stürze mich auf die wärmende Süßspeise.
Obwohl ich wirklich ordentlich zulange, ist Günter als erster fertig. Er steht auf und will nach seinem Teller greifen, wird aber mitten in der Bewegung von Aurélie gestoppt:
„Das mache isch. Zeit für’s Bett!“
Wie ein kleiner Junge gehorcht Günter auf’s Wort und verlässt mit schleppenden Schritten und hängenden Schultern das Zimmer.
„Der arme Kerl.“, sage ich mitleidig. „Also ich fand den Tag ganz schön heftig, aber ihn scheint es fast noch mehr mitzunehmen.“
„Er ist sensibler als man zunächst denken würde, tu sais? Nachdem sie ihm seine Stelle und alles andere genommen `aben, `at er sisch hier verkrochen und sisch fast ssu Tode getrunken. Wären Fox, Flora und Pan nischt aufgetaucht und `ätten ihn aus seiner Lethargie gerissen, ´ätte er es wahrscheinlisch auch geschafft. Seitdem ist er trocken, aber gerade in schwierigeren Situationen muss man immer noch eine bischen auf ihn aufpassen.“, erzählt Aurélie und zieht zum Schluss verständnisvoll die Schultern hoch.
Je länger ich hier bin, desto klarer wird mir, dass wohl jeder in diesem Haus ein ordentliches Päckchen mit sich herum trägt.
Umso schöner ist es, zu sehen, dass sie alle irgendwie zueinander gefunden haben und sich nun gegenseitig unterstützen. Wie Günter sagte: Eine große, glückliche Familie.
Aurélie und ich bleiben noch eine Weile am Esstisch sitzen und sie erzählt mir ein bisschen mehr über die einzelnen Mitglieder dieser ungewöhnlichen Formation.
Fox hat sich wohl relativ schnell als eine Art Anführer herauskristallisiert. Seine ruhige, bedachte Art gepaart mit großem Organisationstalent, einem beeindruckenden Verhandlungsgeschick und der Fähigkeit, mitreißende Motivationsreden zu schwingen, halten das ganze Unternehmen - wie Aurélie es nennt - auch in schwierigen Zeiten auf Kurs.
Von seiner Freundin Meiling schwärmt Aurélie richtig. Sie erzählt mir, wie mutig und selbstlos die zierliche Asiatin ist und dass sie ihr ohne zu Zögern geholfen hat, ihrem brutalen Ex-Mann zu entkommen. Auch vor diesem Ereignis hatte sie schon als Insiderin für die Gruppe im Repro-Zentrum spioniert und sich hierdurch immer wieder in große Gefahr gebracht. Selbst die Schusswunde, die ihr der arme Fox nur mit großem Widerwillen zugefügt hatte, war ihre eigene Idee gewesen. So sollte jeder Verdacht, sie hätte irgendetwas mit meiner Flucht zu tun, im Keim erstickt werden.
„Wie es aussieht, `at sie diese Opfer umsonst gebracht.“, seufzt Aurélie niedergeschlagen. „Aber keine Sorge, wenn sie jemand retten kann, dann unsere vier einssischartige Freunde!“
Flora, Fox acht Minuten jüngere Zwillingsschwester, ist im Gegensatz zu ihm Fremden gegenüber zunächst skeptisch, aber, wenn man sie besser kennt, wohl eher der Typ quirliger Freigeist. Neben ihrer Kreativität und Offenheit ist sie außerdem eine echte Kämpfernatur und das tatsächlich im physischen Sinne, klärt Aurélie mich auf.
Sie beherrscht diverse Kampfsportarten und einige eigene Tricks, die sie im Ernstfall auch ohne zu Zögern einsetzt.
Wenn ich an die zierliche, zurückhaltende Frau denke, die mir beim Frühstück gegenüber saß, kann ich mir das so gar nicht vorstellen. Dann erinnere ich mich aber auch an die Euphorie, mit der sie bei meiner Rettung unsere Verfolger immer wieder abgeschüttelt hat, und muss einräumen, dass sie tatsächlich ein sehr vielschichtiger Mensch zu sein scheint.
Pan ist einer ihrer ältesten Freunde. Ihnen wurde schon oft eine intimere Beziehung nachgesagt, aber Aurélie ist sich sicher, dass die zwei sich dazu viel zu ähnlich sind. „Er ist mit der Sseit quasi ssu die dritte Sswilling geworden.“, sagt sie kichernd.
Alle anderen Frauen sollten sich vor ihm jedoch besser in Acht nehmen, warnt sie mich mit einem Augenzwinkern: Seine eigene Bezeichnung als Weiberheld scheint nicht übertrieben. Auch die weiteren von ihm benannten Interessenfelder scheinen alle korrekt zu sein. In Anbetracht seines besonderen Talentes, Tatsachen glaubwürdig zu seinem Vorteil zu verdrehen und anzupassen, fühle ich mich durch seine offenbare Ehrlichkeit mir gegenüber ein wenig geschmeichelt.
Außerdem rät mir Aurélie noch dringend davon ab, ihm irgendwelche noch so wertlosen Besitztümer zu überlassen. Von Mitgliedern der Gruppe würde er zwar niemals stehlen, jedoch hat er einen Hang dazu, alles, was er in die Finger bekommt, auseinanderzunehmen und macht sich einen Spaß daraus, es hinterher nicht wieder ganz korrekt zusammenzusetzen.
Das klingt erst einmal lustig, aber die strenge Französin scheint von dieser Eigenschaft inzwischen ziemlich genervt zu sein. Seine kindliche Art hat ihm auch seinen Spitznamen eingebracht:
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