Sie rannte. Musste rennen. Weg von dort, woher sie kam. Sie wusste nicht mehr, was ihr Angst eingejagt hatte, was so mächtig gewesen war, ihr Gemüt zu erschüttern. Sie hatte sich danach gesehnt, mit um Luft lechzender Lunge den Weg zum anderen Ende zu bezahlen. Sie hatten alle mit ihrem Stolz Fangen gespielt. Hatten es gewagt, ihr Frausein infrage zu stellen. Ein Vergehen, das ihr Innerstes dazu bewogen hatte, alle Zelte diesseits des Tunnels abzubrechen. Am Anfang hatte sich Louisa dagegen gewehrt. Doch bald machte sie die Erfahrung, dass sich das, was in ihr rumorte, nichts in den Weg stellten ließ.
Noch ein paar Tage hatte sie verharrt. Ging weiter ihren Verpflichtungen nach. Strafte dabei jene, die ihr weh getan hatten, mit ihrem aufreizendsten Lachen und verkroch sich gleichzeitig in den dunkelsten Winkeln ihres Geistes. Ging in ihrer Wohnung umher, in der sie so oft schon die zarten Fäuste gegen die Wände hämmern ließ und sich, Tränen des Zorns vergießend, auf dem Bett zusammengekrampft hatte. Auch hatte sie noch und noch mal versucht, ihre verwirrte Seele und ihren leidenden Verstand in rotweinbetäubten, nachtdurchdauernden Gesprächen mit Freundinnen zu klären. Doch das alles brachte ihr nicht den Erfolg, auf den sie gehofft hatte. Deshalb rannte sie nun. Den Tunnel immer weiter. Sie musste zu Ihm.
Er würde sie verstehen. Er besaß die Fähigkeit, sie von allen Ängsten zu befreien. Sie rannte. Ihre Lunge brannte. Es schmerzte. Sie hoffte, es sei der Schmerz, der sie nun endlich forttragen würde von ihren Peinigern. Wieder blieb sie stehen. Legte die Hände auf die Knie und hörte ihrem Körper beim Atmen zu. Sie fühlte das Blut in ihren Kopf schießen. Spürte die Adern pulsieren. Ihre Füße schmerzten. Die Turnschuhe waren viel zu eng geworden. Sie ignorierte das Stechen. Ihre Beine trugen sie weiter und ihr Körper folgte ihnen schwerfällig. Das Licht am anderen Ende hatte sie aus den Augen verloren. Vorher hatte sie es noch ausmachen können und war blind darauf zu gerannt. Jetzt tappte sie ziellos im Dunkel und ihr Geist redete ihr Angst ein. Die Furcht, nicht dorthin zu kommen, wo sie sich mit ihrem Leben verbünden konnte. Die Furcht davor, es könne ihr jemand gefolgt sein und die Dunkelheit ausnützen, um sie....
Sie fuhr herum. Das Herz drückte ihr pulsierend die Kehle zu. Ihr Mund stieß würgende, kehlige Laute aus. Das Dunkel, aus dem sie gekommen war, lag unberührt und still da. Nur ihr rasender Atem hallte von den Wänden wider. Sie fuhr sich durch das Haar. Merkte, dass es verklebt und strähnig geworden war und ließ die Hand wieder sinken. Jetzt, da die erste Euphorie langsam nachließ, sank ihr der Mut und sie fand es zunehmend lächerlich und beschämend, davon zu laufen.
Sie wusste nicht mehr, vor was sie fortgelaufen war. Sie konnte sich nicht erinnern, wer ihre Gefühle dermaßen missbraucht hatte, dass sie sich dazu entschieden hatte, jenen Weg zu gehen. Doch umkehren war unmöglich.
Weder fand sie den Mut, noch gab ihr der verbliebene, geschändete Stolz das Recht dazu. Sie konnte spüren, wie er sich infolge ihrer Umkehr über ihr Herz übergeben hätte. Louisa stampfte mit den Füßen auf. Sie schrie die Dunkelheit an. Und erschrak über das Echo, das ihre eigene Stimme mit all ihrer Überzeugung und ihrer Endgültigkeit, das Leid zu bekämpfen, an ihr Ohr trug. Neuen Elan geschöpft, rannte sie weiter. Nicht mehr so gejagt wie zuvor. Die Augen starr geradeaus. Die Muskeln in ihren Beinen fühlend. Sie warf sich in die Brust und hörte sich sagen, jedes Wort mit dem Aufschlag ihrer Schuhe auf dem Steinboden unterstreichend: „ihr könnt mir mein Leben nicht nehmen“. Wie um die Worte in der Ewigkeit fest zu mauern, lächelte sie. Ihr Grinsen wurde breiter und schien in ihrem Gesicht fest zu kleben.
Louisa rannte nicht mehr.
Sie schwebte barfüßig über einer Wiese, die sich, mit Sonnenblumen übersät, schier endlos erstreckte. Ihre Fingerspitzen tauchten durch Wolken hindurch und ihr Mund versuchte, den Sonnenschein in sich aufzunehmen. Plötzlich kam sie der Sonne zu nah und ihre Flügel verbrannten. Sie fiel hinab in dunkelblaues Wasser und schwamm inmitten eines Schwarms Delphine. Tauchte in kreisenden Bewegungen hinab bis auf den Grund und ließ sich von der Strömung treiben. Etwas Kaltes schlug an ihr Gesicht.
Jäh aus ihren Phantasien gerissen, fand sich Louisa zusammengesunken am Boden des Tunnels wieder. Blut lief ihr aus der Nase. Sie befühlte es mit den Fingern, da ihr jegliche Sicht genommen war. Sie war in Trance geraten und letztlich mit dem Gesicht auf den Steinboden geknallt. Ihre Lippen fühlten sich taub an. Sie versuchte, sich aufzustemmen. Es misslang.
Der Schmerz hatte sich bis in ihre Arme und Beine ausgebreitet. Sie ließ sich fallen. Sie fühlte, wie Verzweiflung von ihr Besitz ergriff. Sie kämpfte dagegen an. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, ihren Körper unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Hände hatten sich zu Fäusten verkrampft und schlugen auf den Boden ein. Wieder versagten ihr die Muskeln. Sie rollte sich auf den Rücken und schloss die Augen.
Ihrem Atem zuhörend, dem Schlagen ihres Herzens lauschend und auf das Rasen ihres Pulses sowie den sich langsam entspannenden Körper achtend lag sie da. Ohne einen Gedanken zu fassen. Ohne darüber nachzudenken, ob es gut war. Sie fühlte. Sie war bei ihrem Körper. Endlich hatte sie sich wieder. Es fühlte sich gut an. Es fühlte sich richtig an.
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