Der Postbote trug die kleine Kiste mit ausgestreckten Armen vor sich her und läutete. Auf dem Paket war die Abbildung eines Insekts zu sehen, das ihm nicht wirklich sympathisch war. Doch er glaubte, dass in der kleinen Kiste nicht das war, was er vermutete. Was sollte die nette Frau Kaminski schon mit einer Spinne anfangen?
Bella öffnete ihm und auf ihrem Gesicht zeigte sich ein vorsichtiges Lächeln. Sie nahm die Kiste entgegen. „Danke, Herr Burger. Sie sind aber wieder einmal besonders pünktlich heute.“ Ihre zwanglose und freundliche Art ließ den Postboten die beängstigende Abbildung auf der kleinen Kiste vergessen.
„Ja, heute geht mir das Austragen zügig von der Hand, Frau Kaminski. In der Ferienzeit ist doch weniger los. Zumindest sind weniger Rechnungen in der Post. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Bis morgen dann.“
„Den werde ich haben, danke sehr. Bis morgen, Herr Burger.“ Bella schloss die Tür. Sie platzte fast vor Neugierde und Ungeduld. In weniger als einer halben Stunde würde Bernd aus dem Büro kommen. Ob sie ihm noch was Nettes kochen sollte?
Bernd war pünktlich wie immer. Auch seine Laune war so schlecht wie nach jedem Arbeitstag. Sein Kollege hatte es wie immer verstanden, ihm den Großteil der unangenehmen Aufgaben auf den Schreibtisch zu transferieren. Im Gedanken daran bekam er schon wieder einen hochroten Kopf vor lauter Ärger. Das war nicht gut für seinen Blutdruck.
Er betrat das Haus, rief nach Bella, damit sie ihn bedauerte, und ließ sich dann schwer in das Sofa fallen.
Bella war heute ungewohnt verständnisvoll. Sie trat hinter die Sofalehne und massierte mit beiden Händen seine Schläfen.
Bernd atmete tief ein und aus.
„Was gibt es zu essen? Hoffentlich nicht schon wieder Eintopf?“ Er nörgelte schon, bevor Bella antworten konnte.
„Ach, Liebling, bleib noch ein wenig sitzen und entspann dich. Das mit dem Essen hat doch Zeit.“
Bernd schloss die Augen und sah die Spinne nicht, die sich langsam aber sicher zu ihm abseilte und Sekunden später auf seiner Schulter landete. Bernd bemerkte davon nichts. Er folgte Bellas Rat und versuchte, sich zu entspannen. Schon spürte er, dass seine Frau ihre Hände zurückzog. Vermutlich ging sie in die Küche und kümmerte sich endlich um das Abendessen. Bernd machte sein verdientes Nickerchen.
Nach einer Weile öffnete er die Augen. Das Licht fiel grell in seine Pupillen. Er sah Sterne vor seinen Augen aufleuchten, die sich stetig drehten wie grelle Sonnen in einem psychedelischen Rhythmus. In ihrem Zentrum stand eine dicke, rot-schwarze Spinne, die ihn böse anzugrinsen schien. Bernd sprang auf und schrie wie am Spieß.
Kaum stand er auf seinen Beinen, begann er zu zucken, ohne dass er eine Veranlassung dazu hatte. Bella stand mit einem kalten Lächeln in der Tür und beobachtete ihn, wie er zuckte und sich wand, als würde er von heftigen Stromstößen gequält. Schnell war er völlig außer Atem. Seine Augen quollen aus dem Kopf hervor, und obgleich er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, sah er, dass Bella mit einem Gefäß auf ihn zutrat, das sie über die ekelerregende Spinne stülpte. Doch es war nicht die Angst vor dem sechsbeinigen Monster, die ihn herumhüpfen ließ, wie einen Irrwisch. Bernd konnte einfach nicht aufhören.
Bella und die Spinne verließen den Raum. Das Letzte, was Bernd wahrnahm, ehe er bewusstlos zusammenbrach, war die Toilettenspülung. Etwas explodierte in seinem Kopf und er sah und hörte nichts mehr, als er bewusstlos auf dem Boden aufschlug.
Wenige Minuten später kniete der Notarzt neben Bernd und schloss mit der rechten Hand die Augenlider des Toten.
„Es tut mir leid, Frau Kaminski. Ihr Mann hat einen tödlichen Schlag erlitten, ich kann nichts mehr für ihn tun.“
Bella schlug die Hände vor das Gesicht. Dahinter verbarg sich ein Lächeln. Ab morgen würde sie als Schwarze Witwe unterwegs sein.
„Mein Name ist Rachel“, das waren immer ihre ersten Worte, wenn sie einen von ihnen kennenlernte. Eine glatte Lüge, denn eigentlich hieß sie Gudrun. Doch sie hasste diesen Namen. Aber Rachel – das hatte etwas. Zum einen brauchte man nur einen Buchstaben zu streichen, um ihr Lebensmotto zu erhalten: Rache! Zum anderen war das ein Zitat aus „Träumen Roboter von elektrischen Schafen?“ von Philip K. Dick. Bekannter war der Titel, unter dem das Buch verfilmt wurde: „Blade Runner“. Auch Gudrun machte Jagd, aber nicht auf Androiden. Sie machte Jagd auf Männer, gnadenlos.
Als Gudrun vierzehn Jahre alt war, hatte ein ganzes Rudel von diesen Schweinen sie vergewaltigt. Diesen Schock überwand sie nie und löste eine Psychose in ihr aus. Niemals konnte sie danach eine normale Beziehung mit einem Junge oder einem Mann beginnen. Das lag nicht an ihrem Äußeren – sie war attraktiv: lange schwarze Haare, vollbusig und schlank aber nicht dürr. Mit ihren prachtvollen Schmolllippen, ihrer Stupsnase und ihren rehbraunen Augen hätte sie jeden Schönheitswettbewerb mit Leichtigkeit gewonnen. Doch das wollte sie nicht.
Gudrun war eine Schwarze Witwe. Laut einer großen Internetsuchmaschine werden echte Witwen (Latrodectus) als eine Gattung der Webspinne aus der Familie der Haubennetzspinnen (Theridiidae) bezeichnet. Die dazu gehörende „Schwarze Witwe“ ist mit starken Giften ausgestattet. Natürlich war Gudrun von Natur aus nicht giftig. Aber sie sorgte stets vor, wenn sie auf Beutefang ging. Mit Thallium hatte sie das perfekte Mittel gefunden. Es war hochgiftig und wurde gut über den Magen aufgenommen, zumal es geschmacksneutral war. Thallium wurde für das Färben von Gläsern benutzt wird, als Glasbläserin saß Gudrun an der Quelle. Das war perfekt.
Auch heute sollte es wieder so weit sein. Ihre Begierde nach einem Mann war geweckt. Sie hatte sich herausgeputzt und hatte ein schwarzes Kleid mit roten Applikationen angezogen, was dem Vorbild der Spinne sehr nahe kam. Als Gudrun mit der Stadtbahn in die Innenstadt von Hannover fuhr, nahm sie die geilen Blicke der Männer durchaus auf. Sie lächelte sie an, aber es war ein falsches Lächeln.
Im Zentrum stieg sie aus, und ging, nachdem sie die U-Bahn-Station „Kröpcke“ verlassen hatte, die elegante Georgstraße entlang. Ihr Ziel war nicht weit. Es war laut einem bekannten Herrenmagazin eine der besten Bars Deutschland, die Nummer zwei nach einem Lokal in München. Am Holzfass vor dem Eingang saßen einige junge Leute und tranken Cocktails. Gudrun setzte sich an die Theke, wie immer. Es erklang Musik von Sade. Sie liebte diese elegante Bar. Es war im Stile der zwanziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts eingerichtet. Die Whisky-Auswahl überbot jede andere Lokalität in dieser Stadt, doch danach stand ihr nicht der Sinn.
Der kahlköpfige Barkeeper nickte ihr freundlich zu. Er kannte sie gut und wusste, was sie trinken wollte – eine „Bloody Mary“. Zwei Hocker weiter saß ein Hüne von Mann. Er war strohblond und es schien, als sei er einem Life-Style-Magazin entsprungen. Er trug einen dunkelblauen Maßanzug und Schuhe, die einige hundert Euro gekostet haben mussten. Der blonde Riese trank, soweit es Gudrun erkannte, einen „Zombie“. Bei diesem Drink machte der Rumanteil einen Großteil des Getränkes aus.
Gudrun rückte zu dem Hünen heran, setzte sich neben ihn, leckte sich über die kirschroten Lippen und sagte das, was sie immer sagte: „Mein Name ist Rachel.“.
Die himmelblauen Augen des Blonden strahlten. Er hatte angebissen. „Ich heiße Konrad. Darf ich Sie auf einen Drink einladen?“
„Da kann ich nicht widerstehen, allerdings habe ich gerade bestellt. Übernehmen Sie?“
„Selbstverständlich. Einer solch wunderschönen Frau kann man doch nichts abschlagen.“
„Ich habe Sie hier noch nicht gesehen, Sie sind wohl nicht aus Hannover?“
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