Letztendlich beurteilen einige Mediziner das exzessive Schreien auch medizinisch als „Krankheitswert“ – je nach subjektiv erlebter Belastung des Babys und der Eltern. Danach ergreift man dann auch eine entsprechende Therapie.
Die moderne Medizin ist allerdings heutzutage weit weg davon, das Schrei-Baby als Krankheit zu definieren. Überwiegend wird jetzt davon gesprochen, dass es sich bei Schrei-Babys um ein Beziehungsproblem Kind-Eltern handelt (mit der medizinischen Einordnung als Anpassungsstörung: F 43.2 im international verbindlichen medizinischen Klassifizierungssystem ICD-10).
Man muss sich das einmal plastisch vorstellen: Junge Eltern bekommen zum ersten Mal ein Kind. Sie wissen oft nicht, wie sie damit umgehen sollen, machen einiges falsch und sind schlichtweg erstmal überfordert. Irgendwann sind sie auch genervt, und das überträgt sich aufs Kind. Das kleine Würmchen merkt das – und schreit dagegen an. Dann setzt sich ein quälender Kreislauf in Gang. Das Kind schreit, verschluckt sich, pumpt dadurch Luft in seinen Bauch und bekommt dazu auch noch Blähungen. Gepaart mit vielleicht falscher Ernährung kommt es hier zu einem sich potenzierenden negativen Kreislauf. Es muss nicht immer so sein. Aber die überwiegende Zahl medizinischer Studien und Beobachtungen deutet auf diesen Weg stark hin. Insofern ist der Begriff der Dreimonats-Kolik mit Vorsicht zu sehen, weil in der Folge der 1954 gestarteten Untersuchungen ganz andere Beobachtungen gemacht wurden. Einige Mediziner sprechen gar bei der Drei-Monats-Kolik von einer Fehlinterpretation. Sie ist auch heute nicht in der international gültigen medizinischen ICD-Klassifikation, nach der alle Krankheitsbilder einzusortieren sind, zu finden. Sie mag manchmal auch heute noch gelten. Doch die Ursachen fürs Schrei-Baby sind vielschichtiger. Jeder Fall muss individuell untersucht und behandelt werden.
Heute definiert insbesondere die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie das exzessive Schreien als ein Leitsymptom der Regulationsstörung im Säuglingsalter: eine für das Alter und den Entwicklungsgrad des Säuglings außergewöhnliche Schwierigkeit, sein Verhalten in gleich mehreren Bereichen entsprechend zu lösen: Schlafen, Hunger, Füttern, Windeln wechseln, Bauchschmerzen, Zuneigung, Trost, angenehmes Liegen, Wahrnehmung der Umgebung und so weiter.
Wie entwickelt sich Baby-Geschrei?
Schrei-Babys leiden an dauerhaften, unstillbaren Unruhe- und Schreiattacken. Sie kommen wie aus heiterem Himmel ohne einen ersichtlichen Grund. Alle bisherigen Beobachtungen ergaben, dass ein solches exzessives Schreien meist um die zweite Lebenswoche herum beginnt. In der Regel hört das etwa nach drei bis vier Monaten wieder auf.
Das anfallsartige Schreien der Babys wechselt sich dabei mit Unruhe ab. Bis zur sechsten Lebenswoche nehmen Heftigkeit und Häufigkeit zu. Meist legt sich das dann wieder bis zum dritten Lebensmonat. Doch vier Prozent aller betroffenen Babys schreien bis zum sechsten Monat weiter, selten sogar noch länger.
Das Schreien selbst äußert sich in unstillbaren, rhythmischen Schrei-Attacken ohne erkennbaren Grund. Man sagt im Volksmund: Die Kinder kriegen sich nicht mehr ein. Sie schreien unbändig weiter und ringen dabei nach Luft. Sie reagieren auf nichts mehr. Im Gegenteil: Sie schreien dann eher noch heftiger.
Ein weiteres Merkmal des Schreiens ist: Es tritt häufiger am Abend auf. Grund dafür ist eine Überreizung des Säuglings gegen Abend, weil bei kurzen Schlafphasen (etwa weniger als 30 Minuten) über den Tag verteilt gegen Abend eine Übermüdung des Säuglings mit Überreizung auftritt.
Ein Kind schreit und das andere nicht – warum?
Es ist schon verrückt. Das eine Baby schreit sich die Seele aus dem Leib, und der andere Säugling ist so pflegeleicht, dass es schon unheimlich wirkt. Es ist fast so ungerecht verteilt wie beim Essen. Der eine muss streng haushalten, um sich keinen Rettungsring anzufressen. Ein anderer kann ständig über die Stränge schlagen und nimmt trotzdem keinen Gramm zu (obwohl er es gerne möchte!). Woran liegt das? Was sind die Ursachen des Schreiens?
Dabei ist das gar nicht mal so selten, wie wir in der Einleitung bereits beschrieben haben. Und es muss auch nicht unbedingt negativ sein sowie Spätfolgen in der Entwicklung nach sich ziehen.
Wir haben bereits von den Theorien der Drei-Monats-Koliken gehört und dabei festgestellt, dass es eine Variante von vielen sein kann. Aber abgesichert ist das auch nicht. Der kleine Schreihals kann ja nicht sagen, wo der Schuh drückt. Allenfalls kann der Kinderarzt die Magen- und Darmgegend nach Geräuschen abhorchen. Wenn es zu sehr blubbert, kann das Baby unter Blähungen leiden.
Die Forschung auf diesem Gebiet ist leider bis heute noch nicht zu einem klaren Ergebnis darüber gekommen, was dieUrsache des Schreiens ist – oder sind es doch mehrere? Aber warum schreien dann alle diese Babys etwa drei Monate lang oder gar länger? Manche vermuten, was aber nicht bewiesen ist, dass es sich um Koliken (Magen-/Darmkrämpfe) handelt. Aber man mag nicht das drei Monate anhaltende Schreien immer nur auf Blähungen im Magen-/Darm-Trakt zurückführen. Die Ursachen des Schreiens im Baby-Alter haben jedoch gleich mehrere Gründe. Keine davon ist jedoch – leider – allgemein akzeptiert.
Ursache kann demnach auch eine gestörte Beziehung Eltern/Kind sein, etwa dann, wenn die jungen Eltern überfordert und müde sind. Die Gereiztheit überträgt sich aufs Kind. Man spürt es förmlich knistern. Babys spüren das schon im Mutterleib, wenn etwas nicht stimmt und die Schwangere Probleme wälzt. Umso deutlicher merkt es der Säugling, wenn die Jungeltern nicht harmonieren.
Denn man hat vielfach beobachtet, dass das Schreien eines Babys letztendlich auch die Kommunikation der Eltern mit ihrem Kind zunehmend stört beziehungsweise sogar belastet. Vor allem die Mutter ist total überfordert, ja manchmal verzweifelt und gereizt. Sie gibt beispielsweise dem Baby hektisch die Flasche, hat keine Geduld beim Säugen oder vergisst die Streicheleinheiten fürs Neugeborene. Und nicht jeder hat die guten Nerven, exzessives Schreien auch auszuhalten.
Wir sehen also, Schreien hat nicht unbedingt nur etwas mit dem Kind zu tun. Es ist ein interaktives Handeln mit Aktion und Reaktion zwischen Eltern und Kind. Natürlich sind die gestressten Eltern daran auch beteiligt. Es ist nicht nur Sache des Kindes oder allein bei ihm begründet.
Um hier gleich einen Lösungsansatzzu vermitteln, sei folgendes gesagt: Die Aufklärung der Eltern ist erstmal ungeheuer wichtig. Deshalb sollten alle Kinderärzte und Entbindungskliniken sowie sonstige Beratungsstellen dies als Standardprogramm für junge Eltern automatisch mit in ihrem Programm haben. Heute weiß man gottlob um diese Zusammenhänge und kann darauf besser reagieren. Vielfach ist das auch schon Bestandteil der Schulungen vor der Geburt.
Als nächstes müssen Eltern darüber aufgeklärt werden, wie sie auf Schreien am besten reagieren – am günstigsten schon, bevor Schrei-Attacken beginnen. Eine verständnisvolle Eltern-Kind-Kommunikation kann auch trainiert werden. Sie wird in Schwangerschafts- und Geburtsvorbereitungskursen etwa in den Volkshochschulen vermittelt.
Natürlich kann das Schreien auch ganz andere Gründe haben: etwa echte Erkrankungen oder organische Veränderungen wie einen Herzfehler. Das Baby kann ernsthaft krank sein und Fehlfunktionen im Organismus wie Nierenschwäche haben, was man rein äußerlich nicht sieht. Deshalb muss ein Schrei-Baby gründlich untersucht werden. Geben Sie sich nicht voreilig mit oberflächlichen Diagnosen wie Dreimonats-Koliken zufrieden. Gehen Sie der Sache auf den Grund.
Die Anamnese zur Diagnose
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