»Der Ärmste, der so klein ist!« dachte der Junge, als er auf den Hofplatz hinauslief. Und er hatte wohl Grund, das zu sagen. Zweimal wurde er umgeweht, ehe er nach dem Wohnhause hinüberkam, und einmal fegte ihn der Wind in eine Wasserpfütze hinein, die so tief war, daß er fast ertrunken wäre. Aber er kam doch hinüber.
Er kletterte ein paar Stufen hinauf, kroch über eine Türschwelle und gelangte auf eine Diele. Die Stubentür war geschlossen, aber unten in der einen Ecke war ein großes Stück herausgenommen, damit die Katze aus und ein gehen konnte. Es war also leicht genug für den Jungen, nachzusehen, wie es da drinnen stand.
Kaum hatte er einen Blick in die Stube geworfen, als er zusammenzuckte und den Kopf zurückzog. Auf dem Fußboden lag eine alte, grauhaarige Frau lang ausgestreckt. Sie rührte sich nicht und stöhnte auch nicht, und ihr Gesicht schimmerte wunderlich weiß. Es sah so aus, als wenn ein unsichtbarer Mond sein Licht darauf werfe.
Der Junge mußte daran denken, daß, als sein Großvater gestorben war, dessen Gesicht auch so wunderlich weiß gewesen war. Und er begriff, daß die alte Frau, die da in der Stube auf dem Fußboden lag, tot war. Der Tod hatte sie offenbar überrascht, so daß sie sich nicht einmal auf ihr Bett hatte legen können.
Er wurde so schrecklich bange, als es ihm klar geworden war, daß er sich mitten in der Nacht allein mit einer Leiche befand. Über Hals und Kopf stürzte er die Treppe hinab und wieder in den Kuhstall hinein.
Als er der Kuh erzählte, was er in der Stube gesehen hatte, hielt sie mit dem Fressen inne. »Ja, dann ist meine Herrin tot,« sagte sie. »Dann ist es wohl auch mit mir bald vorbei.« – »Es wird sich wohl jemand finden, der sich deiner annimmt,« sagte der Junge tröstend. – »Ach, du weißt ja nicht,« sagte die Kuh, »daß ich schon doppelt so alt bin, wie eine Kuh zu sein pflegt, ehe sie auf die Schlachtbank kommt. Aber ich mache mir auch nichts mehr daraus zu leben, wenn die da drinnen nicht mehr kommen und für mich sorgen kann.«
Dann schwieg sie eine Weile, aber der Junge konnte wohl merken, daß sie weder schlief noch aß. Es währte denn auch nicht lange, bis sie wieder zu sprechen begann: »Liegt sie an der Erde?« fragte sie. – »Ja, das tut sie,« antwortete der Junge. – »Sie hatte die Gewohnheit, hierher in den Kuhstall zu kommen und mit mir über alles zu reden, was sie bekümmerte. Ich verstand, was sie sagte, wenn ich ihr auch nicht antworten konnte. In den letzten Tagen ging sie umher und sprach davon, daß sie befürchte, es würde niemand bei ihr sein, wenn sie stürbe. Sie ängstigte sich, daß niemand ihr die Augen zudrücken und ihr die Hände kreuzweise über die Brust legen würde, wenn sie tot sei. Du würdest wohl nicht hineingehen und das tun?« Der Junge besann sich. Er erinnerte sich noch sehr wohl, wie sein Großvater gestorben war; da hatte seine Mutter ihn mit großer Sorgfalt zur Ruhe gebettet. Er wußte, daß dies etwas war, was geschehen mußte. Aber auf der andern Seite wußte er auch, daß er nicht den Mut hatte, in dieser schrecklichen Nacht zu der Toten hineinzugehen. Er sagte nicht nein, rührte sich aber auch nicht vom Fleck.
Die alte Kuh schwieg eine Weile, als warte sie auf Antwort. Als der Knabe aber nichts sagte, wiederholte sie ihre Bitte nicht. Sie begann im Gegenteil, mit ihm von ihrer Herrin zu sprechen.
Darüber war viel zu sagen. Zuerst erzählte sie ihm von allen den Kindern, die sie großgemacht hatte. Die kamen ja jeden Tag in den Stall, und im Sommer hüteten sie die Kühe auf dem Moor und auf den Wiesen, so daß die alte Kuh gut von ihnen Bescheid wußte. Es waren alles ausgezeichnete Kinder, fleißig und fröhlich. Eine Kuh wußte recht gut, wie ihre Hüter beschaffen sind.
Und auch von dem Gehöft war viel zu erzählen. Das war nicht immer so verfallen gewesen wie jetzt. Es gehörte viel Land dazu, wenn auch der größte Teil sumpfig und steinig war. Kornfelder waren da nicht viele, dahingegen war da überall ausgezeichnetes Weideland, Es gab Zeiten, wo in jedem Stand im Kuhstall eine Kuh angekettet war, und wo der Ochsenstall, der jetzt ganz leer stand, voller Ochsen gewesen. Und damals herrschte Freude und Frohsinn in Stube und Stall. Wenn die Hausfrau die Stalltür öffnete, sang und trällerte sie, und alle Kühe brüllten vor Freude, wenn sie sie kommen hörten.
Aber der Hausherr starb, als die Kinder noch so klein waren, daß sie noch keinen Nutzen schaffen konnten, und die Hausfrau mußte alle Arbeit und Fürsorge übernehmen. Sie war stark wie ein Mann und sie pflügte und erntete. Am Abend, wenn sie in den Stall kam, um zu melken, war sie manchmal so müde, daß sie weinte. Aber wenn sie an ihre Kinder dachte, wurde sie wieder fröhlich. Dann trocknete sie die Tränen und sagte: »Es macht nichts, ich werde schon wieder gute Tage bekommen, wenn meine Kinder erst erwachsen sind. Ja, wenn die erst erwachsen sind!«
Aber sobald die Kinder erwachsen waren, befiel diese eine wunderliche Sehnsucht. Sie hatten keine Ruhe mehr daheim, sie reisten nach fremden Ländern. Ihre Mutter bekam niemals Hilfe von ihnen. Ein paar von den Kindern waren schon verheiratet, als sie fortreisten, und sie ließen ihre kleinen Kinder in dem alten Heim zurück. Und nun liefen diese Kinder mit der Hausfrau in den Kuhstall, genau so, wie es ihre eigenen getan hatten. Sie hüteten die Kühe und es waren gute und tüchtige Kinder. Und am Abend, wenn die Großmutter so müde war, daß sie mitten beim Melken einschlief, konnte sie sich mit dem Gedanken an sie ermuntern und neuen Mut schaffen: »Ich werde schon gute Tage bekommen,« sagte sie und schüttelte den Schlaf ab, »wenn nur die Kinder erst erwachsen sind!«
Als aber diese Kinder erwachsen waren, reisten sie zu den Eltern hinüber in das fremde Land. Keines kehrte zurück, keines blieb in der Heimat. Die alte Frau war schließlich ganz allein auf dem Gehöft.
Sie bat sie auch gar nicht, bei ihr zu bleiben. »Du findest doch nicht, Rödlinna, daß ich sie bitten sollte, hier bei mir zu bleiben, wenn sie in die Welt hinausreisen und es gut haben können?« sagte sie oft, wenn sie im Stall bei der alten Kuh stand. »Hier in Smaaland harrt ihrer ja nichts als Armut.«
Aber als das letzte Enkelkind gereist war, konnte die alte Frau nicht mehr. Mit einemmal wurde sie grauhaarig und gebeugt, ihr Gang wurde wackelnd, es sah so aus, als habe sie keine Kraft mehr, sich zu rühren. Und sie hörte auf zu arbeiten. Sie mochte sich nicht mehr um das Gehöft bekümmern, sondern ließ alles verfallen. Sie setzte die Gebäude nicht mehr instand und sie verkaufte sowohl Kühe als auch Ochsen. Nur die alte Kuh, mit der Däumling jetzt sprach, behielt sie. Die ließ sie leben, weil alle Kinder mit ihr draußen auf dem Felde gewesen waren.
Sie hätte ja Mägde und Knechte in ihren Dienst nehmen können, um sich bei der Arbeit helfen zu lassen, aber sie konnte es nicht ertragen, Fremde um sich zu sehen, jetzt, wo ihre Angehörigen sie verlassen hatten. Und vielleicht sah sie es auch am liebsten, daß das Gehöft verfiel, wenn keins von den Kindern kam, um es zu übernehmen. Sie machte sich nichts daraus, daß sie selber arm wurde, weil sie nicht für das sorgte, was ihr gehörte. Aber sie fürchtete, daß zu den Kindern Kunde davon dringen könne, wie schlecht es ihr erging. »Wenn nur die Kinder es nicht erfahren! Wenn nur die Kinder es nicht erfahren!« seufzte sie, wenn sie im Stall umherschwankte.
Die Kinder schrieben ihr beständig und baten sie, zu ihnen hinüberzukommen, aber sie wollte nicht. Sie wollte das Land nicht sehen, das ihr die Kinder genommen hatte. Sie war böse darauf. »Es ist sicher dumm von mir, daß ich das Land nicht leiden kann, das so gut gegen sie gewesen ist,« sagte sie. »Aber ich will es nicht sehen!«
Sie dachte nie an etwas anderes als an die Kinder, und daß sie weggereist waren. Wenn es Sommer wurde, zog sie die Kuh heraus, so daß sie auf dem großen Moor weiden konnte. Sie selbst saß den ganzen Tag am Moor, die Hände im Schoß, und wenn sie nach Hause ging, sagte sie: »Sieh, Rödlinna, wären hier große, fette Äcker gewesen statt dieser unfruchtbaren Moore, so hätten sie nicht fortzureisen brauchen.«
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