»Ich will dir erzählen, was ich von dem Mädchen weiß, Jon!« sagte Ola, und dann erzählte er dem Fischer, zur Hochsommerzeit seien ein paar fremde Kinder, ein Junge und ein Mädchen, zu Fuß nach Malmberget gekommen, um ihren Vater zu suchen, und als sie hörten, daß der Vater abwesend sei, seien sie dageblieben, um auf ihn zu warten. Aber während sie sich dort aufhielten, sei der Junge bei einer Minensprengung ums Leben gekommen, und da habe das Mädchen durchaus gewollt, daß ein großes Begräbnis ihm zu Ehren veranstaltet werde. Darauf beschrieb Ola sehr schön, wie das arme Mädchen alle Menschen bewogen habe, ihr zu helfen, und wie sie zum Inspektor gegangen war, um mit ihm zu reden.
»Ist dies das Mädchen, das du zu dir nehmen willst, Ola?« fragte der Fischer. – »Ja,« sagte der Lappe. »Als wir von ihr hörten, mußten wir alle miteinander weinen, und wir waren uns alle darin einig, daß, wer eine so gute Schwester gewesen, auch eine gute Tochter sein müsse, und wir wünschten, daß sie zu uns kommen möge.« – Der andere saß eine Weile stumm da. Es war klar, daß er die Unterhaltung nur fortsetzte, um seinem Freund, dem Lappen, eine Freude zu bereiten.
»Es ist wohl von deinem eigenen Stamm, dies Mädchen?« – »Nein, es gehört nicht zum Lappenvolk.« – »Dann ist sie aber doch wohl eine Tochter von Ansiedlern, so daß sie an das Leben hier im Norden gewöhnt ist?« – »Nein, sie stammt weit her aus dem Süden,« sagte Ola und sah dabei aus, als habe das gar nichts mit der Sache zu tun. Aber nun wurde der Fischer eifriger. »Dann glaube ich nicht, daß du sie zu dir nehmen solltest,« sagte er. »Sie kann es gewiß nicht vertragen, zur Winterzeit in einem Lappenzelt zu wohnen, wenn sie nicht von Geburt an daran gewöhnt ist.« – »Sie bekommt gute Eltern und gute Geschwister im Lappenzelt,« fuhr Ola Serka beharrlich fort. »Es ist schlimmer allein zu sein, als zu frieren.«
Aber es schien so, als wenn der Fischer immer eifriger würde, die Sache zu verhindern. Es war, als könne er sich nicht mit dem Gedanken aussöhnen, daß ein Kind, das schwedische Eltern hatte, unter den Lappen aufgenommen werden sollte. »Du sagtest doch, sie hatte einen Vater in Malmberget?« – »Er ist tot,« sagte der Lappe kurz. – »Bist du dessen auch ganz sicher, Ola?« – »Da braucht man doch nicht mehr zu fragen!« entgegnete der Lappe verächtlich. »Das ist doch ganz selbstverständlich. Das Mädchen und ihr Bruder hätten doch nicht nötig gehabt, allein durch das Land zu wandern, wenn ihr Vater noch am Leben gewesen wäre! Sollten zwei kleine Kinder gezwungen sein, sich selbst zu versorgen, wenn sie einen Vater hätten? Sollte das kleine Mädchen es nötig gehabt haben, selbst zu dem Inspektor zu gehen und mit ihm zu reden, wenn ihr Vater noch gelebt hätte? Meinst du, sie würde jetzt auch nur einen Augenblick verlassen sein, jetzt, wo ganz Lappland davon spricht, was für ein tüchtiges kleines Mädchen sie ist, wenn ihr Vater nicht tot wäre?«
Der Mann mit den müden Augen wandte sich nach dem Lappen um. »Wie heißt sie, Ola?« fragte er. Der Lappe dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß es nicht mehr. Aber ich will sie fragen.« – »Du willst sie fragen? Ist sie denn schon hier?« – »Ja, sie ist da oben im Zelt.« – »Wie, Ola, hast du sie schon zu dir genommen ehe du noch weißt, was ihr Vater dazu sagen wird?« – »Ich brauche mich doch nicht an ihren Vater zu kehren. Ist er nicht tot, dann will er jedenfalls nichts von seinem Kinde wissen. Er kann ja nur froh sein, daß sich ein anderer ihrer annehmen will.«
Der Fischer warf seine Angelrute hin und richtete sich auf. Es war Bewegung in ihn gekommen, als sei das Leben von neuem in ihm erwacht. »Der Vater ist wohl nicht so wie andere Menschen,« fuhr der Lappe fort. »Er ist vielleicht einer von denen, die von finsteren Gedanken verfolgt werden, so daß sie es bei keiner Arbeit aushalten können. Ist das ein Vater, den es sich verlohnt zu haben? Das Mädchen selbst glaubt, daß er lebt, aber ich sage, er muß tot sein.«
Während Ola dies sagte, stand der Fischer auf und ging am See entlang. »Wo willst du hin?« fragte der Lappe. – »Ich will mir deine Pflegetochter ansehen, Ola!« – »Das ist gut.« sagte der Lappe. »Komm nur und sieh sie dir an! Ich glaube, du wirst finden, daß ich eine gute Tochter bekomme.«
Der Schwede ging so schnell, daß der alte Ola kaum Schritt mit ihm halten konnte. Als sie eine Strecke zurückgelegt hatten, sagte Ola zu seinem Kameraden: »Jetzt fällt mir ein, daß sie Aase Jonsdatter heißt, die Kleine, die ich zu mir nehmen will.« Der andere beschleunigte nur seine Schritte, und der alte Ola war so froh, daß er gern laut gejubelt hätte. Als sie soweit gekommen waren, daß sie die Zelte sehen konnten, sagte Ola noch ein paar Worte: »Sie ist hierher gekommen, um ihren Vater zu suchen, nicht um meine Pflegetochter zu werden; findet sie ihn aber nicht, so will ich sie gern in meinem Zelt behalten.« Der andere eilte nur mit noch größerer Hast vorwärts. »Dacht' ich mir's doch, daß er erschrecken würde, wenn er hörte, daß ich seine Tochter unter die Lappen aufnehmen wollte!« sagte Ola vor sich hin.
Als der Mann aus Kiruna, der Aase nach dem Lappenlager hinübergerudert hatte späterhin am Tage wieder zurückruderte, hatte er zwei Menschen in seinem Boot, die dicht nebeneinander saßen und sich so fest an der Hand hielten, als ob sie sich nie wieder trennen wollten. Es waren Jon Assarson und seine Tochter. Sie sahen beide ganz anders aus als vor ein paar Stunden. Jon Assarson machte längst nicht mehr einen so müden und gebeugten Eindruck, und seine Augen waren klar und gut, als habe er nun eine Antwort auf das bekommen, was ihn solange bekümmert hatte; und das Gänsemädchen Aase sah nicht mehr mit dem altklugen, vorsichtigen Blick um sich, der ihr bisher eigen gewesen war. Sie hatte jetzt jemand, auf den sie sich stützen, auf den sie sich verlassen konnte, und es sah so aus, als sei sie auf dem Wege, wieder ein Kind zu werden.
XLV. Gen Süden! Gen Süden!
Der erste Reisetag.
Sonnabend, 1. Oktober.
Niels Holgersen saß auf dem Rücken des weißen Gänserichs und sauste hoch oben in den Wolken dahin. Einunddreißig Wildgänse flogen in wohlgeordneter Folge schnell gen Süden. Es rauschte in ihren Federn, und die vielen Flügel peitschten die Luft mit einem kreischenden Laut, daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Akka von Kebnekajse flog an der Spitze, hinter ihr kamen Yksi und Kaksi, Kalme und Neljä, Viisi und Kuusi, der Gänserich Martin und Daunenfein. Die sechs jungen Gössel, die sich im Herbst der Schar angeschlossen, hatten sie jetzt verlassen, um ihr Glück auf eigene Faust zu versuchen. Statt dessen hatten die alten Gänse zweiundzwanzig Gössel bei sich, die im Laufe des Sommers im Felsental herangewachsen waren. Elf davon flogen rechts und elf links, und sie gaben sich redliche Mühe, um denselben Abstand untereinander innezuhalten wie die großen Gänse.
Die armen Jungen hatten noch nie eine lange Reise gemacht, und im Anfang wurde es ihnen schwer, dem schnellen Flug zu folgen. »Akka von Kebnekajse! Akka von Kebnekajse!« riefen sie in jämmerlichem Ton. – »Was gibt's?« fragte die Führergans. – »Unsere Flügel sind müde von dem vielen Bewegen! Unsere Flügel sind müde von dem vielen Bewegen!« schrien die Jungen. – »Je länger ihr weiterfliegt, um so besser wird es gehen!« antwortete die Führergans und flog auch nicht im geringsten langsamer, sondern ebenso schnell wie bisher. Und es schien wirklich, als solle sie recht bekommen, denn als die Gössel ein paar Stunden geflogen waren, klagten sie nicht mehr über Müdigkeit. Im Felstal waren sie aber gewöhnt gewesen, den ganzen Tag zu fressen, und so währte es denn nicht lange, bis sie sich nach Nahrung sehnten.
»Akka, Akka, Akka von Kebnekajse!« riefen die jungen Gänse mir kläglicher Stimme. – »Was gibt's denn jetzt schon wieder?« fragte die Führergans. – »Wir sind so hungrig, daß wir nicht weiter fliegen können,« schrien die Jungen. »Wir sind so hungrig, daß wir nicht weiter fliegen können.« – »Wilde Gänse müssen es lernen, Luft zu essen und Wind zu trinken,« antwortete die Führergans und hielt nicht an, sondern setzte ihren Flug genau so fort wie bisher.
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