Der Adler flog langsam am Ljungan entlang. An vielen Stellen ruhte er auf den Flügeln, damit der Junge Zeit hatte zu sehen, wie die Erntearbeit hierzulande vor sich ging.
Als sie eine Strecke geflogen waren, kamen sie an einen Platz, wo die Flößer arbeiteten. Und der Adler hörte den Jungen zu sich selbst sagen, was das wohl für Leute seien, die dort am Ufer entlang liefen.
»Die sorgen für das Getreide, das unterwegs aufgehalten ist,« rief der Adler.
Der Junge dachte daran, wie ruhig und still die Leute ihr Korn daheim zur Mühle fuhren. Hier mußten Männer mit langen Bootshaken in den Händen am Ufer entlang laufen, und nur mit Not und Mühe brachten sie die Baumstämme wieder flott. Sie wateten ins Wasser hinaus und sie wurden von Kopf zu Fuß naß. Sie sprangen von Stein zu Stein weit in die Gießbäche hinein, sie spazierten auf den schaukelnden Baumstämmen so ruhig umher, als bewegten sie sich auf ebener Erde. Es waren kühne und umsichtige Männer. »Wenn ich dies sehe, muß ich an die Schmiede im Bergwerkdistrikt denken, die mit dem Feuer umgingen, als könne es nicht den geringsten Schaden anrichten,« sagte der Junge. »Diese Flößer spielen mit dem Wasser, als seien sie Herren darüber. Es sieht so aus, als hätten sie es unterjocht, so daß es ihnen nichts mehr anzuhaben wagt.«
Nach einer Weile hatten sie sich der Mündung des Elf genähert, und vor ihnen lag der Bottnische Meerbusen. Gorgo flog jedoch nicht geradeaus, sondern in nördlicher Richtung am Ufer entlang. Er war noch nicht weit geflogen, als sie unter sich ein Sägewerk sahen, das so groß war wie eine kleine Stadt. Während der Adler darüber hin und her schwebte, hörte er den Jungen zu sich selbst sagen, daß das ein großer und prächtiger Ort sei.
»Hier siehst du die große Sägemühle, die Svartrik heißt,« sagte der Adler.
Niels Holgersen dachte an die Windmühlen in seiner Heimat, die so friedlich mitten im Grünen lagen und ihre Flügel ganz langsam bewegten. Diese Mühle, wo die Waldernte gemahlen werden sollte, lag dicht am Ufer. Auf der See davor schwammen eine Menge Baumstämme, die einer nach dem andern mit eisernen Ketten eine schräge Brücke hinauf und in ein Haus geschleppt wurden, das einer großen Scheune glich. Was da drinnen mit ihnen geschah, konnte Niels nicht sehen, aber er hörte ein lautes Klappern und Bullern, und auf der andern Seite des Hauses kamen kleine, mit weißen Brettern hochbeladene Wagen herausgerollt. Die Wagen liefen auf blanken Schienen nach dem Zimmerplatz, wo die Bretter zu Stapeln aufgeschichtet wurden, die Straßen bildeten, so wie die Häuser in einer Stadt. An einer Stelle wurden neue Stapel gebaut, an einer andern Stelle wurden die alten heruntergerissen, und die Bretter an Bord von ein paar großen Schiffen geschafft, die da lagen und auf Ladung warteten. Es wimmelte hier von Arbeitern, und hinter dem Zimmerplatz lagen die Häuser, in denen sie wohnten.
»Hier wird ja so gearbeitet, daß der ganze Wald in Medelpad schließlich zersägt werden wird!« sagte der Junge.
Der Adler bewegte die Flügel ein wenig, und bald sahen sie ein neues, großes Sägewerk, das mit Sägemühle, Zimmerplatz, Hafenmole und Arbeiterwohnungen dem ersten ganz ähnlich war.
»Hier siehst du noch eine von den großen Mühlen. Sie heißt Kubikenburg,« sagte der Adler.
»Ich sehe, der Wald gibt mehr Ertrag, als ich mir vorstellen konnte,« sagte Niels. »Aber mehr Holzmühlen gibt es doch wohl nicht?«
Der Adler bewegte leise die Flügel und flog an ein paar Sägewerken vorüber, bis sie an eine große Stadt gelangten. Als der Adler hörte, wie sich der Junge darüber wunderte, was für eine Stadt das wohl sein könne, rief er ihm zu: »Das ist Sundsvall. Das ist der Hauptplatz des Bezirks.«
Der Junge dachte an die Städte unten in Schonen, die so alt und ernsthaft und grau aussahen. Hier oben in dem kalten Norden lag Sundsvall ganz drinnen in einer schönen Bucht und sah so lustig und strahlend aus. Es lag etwas weit Vergnüglicheres über dieser Stadt, wenn man sie von oben sah, denn in der Mitte ragte eine Gruppe hoher, steinerner Häuser auf, so prächtig, daß sie kaum in Stockholm ihresgleichen haben konnten. Rings um die steinernen Häuser herum war ein leerer Raum, und dann kam ein Kranz von hölzernen Häusern, die so traulich und freundlich inmitten kleiner Gärten lagen, jedoch ganz genau zu wissen schienen, daß sie viel geringer waren als die steinernen Gebäude, so daß sie sich nicht in ihre Nähe hinwagen durften. »Dies ist wohl eine reiche und mächtige Stadt,« sagte Niels. »Es ist doch nicht möglich, daß der magere Waldboden dies alles hervorgebracht haben kann?«
Der Adler bewegte die Flügel und flog nach der Insel Alnö hinüber, die Sundsvall gerade gegenüber lag. Hier geriet der Junge ganz außer sich vor Verwunderung über alle die Sägewerke, die dort am Ufer entlang lagen, eins neben dem andern, und drüben auf dem Festlande lag auch Sägewerk neben Sägewerk; Zimmerplatz neben Zimmerplatz. Er zählte mindestens vierzig, aber er glaubte, daß es noch mehr seien. »Es ist doch sonderbar, daß es hier oben so aussehen kann,« sagte er. »So ein Leben und so eine Bewegung habe ich sonst nirgends auf der ganzen Reise gesehen. Unser Land ist doch ein wunderbares Land! Wohin ich auch komme, überall ist da etwas, wovon die Menschen leben können!«
XLI. Ein Morgen in Ångermanland.
Das Brot.
Sonnabend, 18. Juni.
Als der Adler am nächsten Morgen eine Strecke nach Ångermanland hineingekommen war, sagte er, heute sei er hungrig und müsse sich etwas zu fressen verschaffen. Er setzte Niels Holgersen auf einer mächtigen Tanne ab, die auf einem hohen Bergrücken stand, und flog davon.
Der Junge suchte sich einen guten Sitzplatz in einem gegabelten Ast und saß da und sah über Ångermanland hinab. Es war ein herrlicher Morgen, die Sonne vergoldete die Baumwipfel, ein leiser Wind bewegte die Nadeln wie im Spiel und der lieblichste Duft stieg aus dem Walde auf. Eine prachtvolle Landschaft lag vor Niels ausgebreitet, und ihm selber war froh und sorglos zumute. Niemand, meinte er, könne es besser haben, als er.
Er hatte eine freie Aussicht nach allen Seiten. Das Land westlich von ihm war voller Felsgipfel und Bergkuppen, die höher und wilder wurden, je ferner sie lagen. Östlich von ihm waren auch Bergabhänge, aber sie senkten sich und wurden niedriger, bis das Land unten am Meer ganz flach wurde. Überall blinkten Bäche und Flüsse, die, so lange sie zwischen den Bergen flossen, einen gefährlichen Lauf hatten mit Gießbächen und Wasserfällen, sich aber breit und blank ausdehnten, sobald sie sich dem Meeresufer näherten. Auch den Bottnischen Meerbusen konnte er sehen. In der Nähe des Landes war er mit Inseln übersät und von Landzungen ausgezackt, weiter draußen aber lag er klar und dunkelblau da wie ein Sommerhimmel.
»Dies Land sieht aus wie ein Bach, wenn es eben geregnet hat und eine Menge kleiner Rinnsale zu ihm hinabgelaufen kommen und Furchen in den Boden graben, die sich winden und krümmen und schließlich zusammenlaufen,« dachte der Junge. »Und schön ist es hier. Ich entsinne mich noch, daß der alte Lappe auf Skansen immer sagte, der liebe Gott habe Schweden, als er es auf der Erde ausbreitete, auf den Kopf gestellt. Die anderen lachten über ihn, aber er behauptete, wenn sie nur gesehen hätten, wie schön es da oben im Norden sei, so würden sie schon begreifen, daß es nicht von Anfang an beabsichtigt gewesen sei, daß ein solches Land so abseits liegen sollte. Und ich glaube wirklich, darin hat er recht gehabt.« Als der Junge sich an der Landschaft satt gesehen hatte, nahm er den Ränzel vom Rücken, holte ein Stück feines Weißbrot heraus und begann zu essen. »Ich glaube, ich habe niemals so gutes Brot gekostet,« sagte er. »Und wieviel ich noch davon habe! Das kann noch für mehrere Tage ausreichen. Gestern um diese Zeit ahnte ich nicht, daß ich in den Besitz eines solchen Reichtums kommen würde.«
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