Rechtecker
Eine Geschichte mit Bildern in mehreren Teilen für Aviva zum sechsten Geburtstag.
Aufgeschrieben nach erlebten Träumen vom Opi.
Ich schlafe nicht mehr so viel. Das kommt bei älteren Menschen ziemlich oft vor. Besonders bei solchen wie mir, die sich nicht genug bewegen. Die zu dick sind und immer gerne gute Sachen futtern. Manchmal träume ich auch wirre Sachen. So, wie in der Nacht neulich.
Ich hatte am Abend mit einem alten Freund telefoniert und wir hatten uns über die Hohe See unterhalten. Mit Hoher See meine ich das richtige Meer, da, wo keine Landmenschen herumlaufen. Jedenfalls kamen mir beim Einschlafen alle möglichen Erinnerungen und Bilder in den Sinn.
Meistens wache ich mitten in der Nacht auf und gehe durch die Wohnung, koche mir einen Tee, lese irgend etwas oder zeichne ein Bild. Manchmal mache ich mir auch den Computer an, schaue auch schon mal fern. Hin und wieder greife ich auch zum Fotoapparat und fotografiere.
In dieser Nacht habe ich geträumt. Von der Hohen See. Wie ich in einem kleinen Ruderboot auf dem großen Meer treibe und ihm zuhöre. Wie ein Mondfisch neben mir dahintreibt. Das war wunderbar. Die Sonne schien, aber nicht zu heiß. Es wehte ein sanfter Wind und freundliche Wellen schaukelten mich. Eine Weile schwammen Delfine neben meinem Boot. Manchmal schossen fliegende Fische aus dem Wasser, glitten sogar über mich und das Boot hinweg und landeten erst nach zwei Kabellängen wieder in der See. Damit Du es weißt: Eine Kabellänge ist der zehnte Teil einer Seemeile und hat nichts mit dem Ladekabel von einem Smartphone oder einem Druckerkabel zu tun. Aber ich will nicht ablenken. Das tiefblaue Meer wurde grün. Neben dem Boot schwammen drei Hammerhaie. Ich guckte sie träge an, sie guckten träge zurück und drehten dann bei. Sie waren wohl nudeldicke satt. Unerwartet ruckelte mein Traumboot ziemlich, es knirschte und das Boot und ich kamen an einem von Muscheln und Schneckengehäusen übersäten Strand an.
Ich hörte Schniefgeräusche. Jemand in meiner Nähe saugte ganz stark Luft in die Nase. Immer wieder. Dann hörte ich, wie dieser Jemand leise vor sich hin murmelte. Ich kletterte aus meinem Boot und hatte sandige Füße und pitschnasse Hosenbeine bis zu den Knien. Und dann entdeckte ich ihn. Ein Rechtecker stand in meinem Traum, an meinem Traumstrand. Du sagst natürlich sofort, dass es so etwas nicht gibt. Aber es stimmt. Natürlich wusste ich noch nicht, dass es ein Rechtecker war. Aber der Reihe nach. Erstmal habe ich zur Sicherheit in meinem Traum den Fotoapparat herausgenommen, zum Glück war er trocken geblieben. Und dann habe ich ein Foto gemacht:
Der kleine, komische Kerl brabbelte die ganze Zeit vor sich hin: „Ich kann Euch doch riechen. Ihr wart doch hier.“ Dabei schnüffelte er weiter am Gehäuse einer Pantoffelschnecke. Ich sprach ihn an, so etwas geht ja in Träumen immer. Er erschrak gar nicht – was ich an seiner Stelle bestimmt getan hätte – und drehte sich zu mir um.
„Na?“, fragte er freundlich, „Wer bist Du denn? Du riechst so schön nach Meer und Wind!“
Ich war voll erstaunt. Vor mir stand ein Rechteck-Gesicht mit einer RIESENGROSSEN Nase. Nach einiger Sprachlosigkeit fragte ich „Wer bist Du denn?“ „Ich bin Nase. Ich bin – wie Du ja siehst – ein Rechtecker. Und wo ich Dich gerade rieche – hast Du hier am Strand andere Rechtecker gesehen? Ich habe sie verloren. Ich kann hervorragend riechen, sie waren hier. Aber leider kann ich nicht gut sehen. Und wer bist Du?“ „Tut mir leid, ich habe niemanden gesehen. Ich bin eben erst hier angelandet. Ich bin ein Hohe-See-Träumer. Man nennt mich Opi.“
Ihr erinnert Euch? Ich hatte mich dem Rechtecker „Nase“ vorgestellt, der andere Rechtecker vermisste. Letzte Nacht träumte ich weiter, genau an der Stelle vom Strand, an der ich zuletzt aufgewacht war:
Nase bat mich, ihm suchen zu helfen. „Ich laufe sowieso noch ein Stück weiter am Strand entlang, wenn ich einen anderen von Euch treffe, zeige ich ihm den Weg zu Dir!“ „Das ist freundlich von Dir, Opi, ich geh und suche in den Dünen weiter!“ Und schon schnüffelte Nase wieder und bog landeinwärts. Es dauerte einen Augenblick, aber dann rief ich ihm hinterher „Wenn ich einen von Euch treffe, wie kann ich ihn denn zu Dir schicken, wenn Du jetzt vom Strand weggehst?“ Nase kam zurück. „Willst Du nicht einfach den Strand in der anderen Richtung absuchen?“, fragte ich ihn. „Nein, es riecht so, als sei hier wenigstens einer von uns in Richtung Dünen oder Wäldchen gegangen!“ Mir fiel das Märchen von Hänsel und Gretel ein, die sich im Wald eine Spur gelegt hatten, damit sie nicht verloren gingen. Ich erzählte Nase davon. Der war ganz begeistert. „Lass uns Muscheln dafür nehmen!“ Gesagt – getan.
Schon nach wenigen Minuten hatten wir eine Ecke Sand freigeräumt. Bald darauf waren wir mit unserem Werk zufrieden.
Auf der sandigen Fläche legten wir aus Schneckenhäusern und Muschelschalen einen Pfeil, der auf die Dünen und die dahinter liegenden Bäume zeigte.
„Und nun?“, fragte Nase. „Wenn ich einen von Euch treffe, dann sage ich ihm, dass er am Ufer bis zu dem großen Pfeil aus Muscheln entlang gehen soll. Dort kann er abbiegen und in Richtung Wäldchen gehen. Und irgendwo unterwegs riecht er Dich dann!“ „Nö“, meinte Nase, „so gut wie ich riecht keiner!“ Die Aussage war ja hintersinnig, dachte ich. Der kleine Kerl schien nach gar nichts zu duften. Er meinte bestimmt, „So gut wie ich kann keiner riechen!“ Ich sagte es aber nicht, weil alle behaupten, ich wolle immer ALLES besser wissen. Aber das stimmt nicht. Und überhaupt, von Rechteckern habe ich auch noch nichts gehört. Also sagte ich zu Nase nur: „Aber Du wirst ihn dann ja bestimmt riechen!“ Ich wollte weiter, zum einen bekam ich langsam Hunger und Durst, zum anderen wurde ich schon ein wenig müde. Wir verabschiedeten uns voneinander und Nase ging genau in die Richtung, die der Pfeil anzeigte.
Ich spazierte langsam am Flutsaum entlang und hielt lange Ausschau nach Rechteckern. Ich haderte auch ein wenig mit mir: Wieso war ich nicht auf die Idee gekommen, mich nach der Anzahl der Vermissten zu erkundigen? Warum hatte ich denn nicht gefragt, wie die anderen aussehen? Auch Nase war ja genau genommen kein Rechteck, er hatte zwar sechs Seiten, die ungefähr Rechtecke waren, aber wenn ich seine Form beschreiben sollte, dann würde ich wohl Quader verwenden.
Immer weitere Fragen kamen mir in den Sinn. Ich musste mir einen Ruck geben, damit ich wieder Meer, Himmel, Strand, Wind und Muscheln wahrnahm und genießen konnte. Nach ein paar Schritten waren Nase und seine anderen Kumpel nicht mehr wichtig.
Stattdessen nahmen Hunger und Durst zu, auch die Schläfrigkeit. Ich beschloss, nur noch bis zur nächsten Biegung der Küste am Strand zu bleiben.
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