SAOMAI
Erotikthriller
June A. Miller
Das Knarren der schweren Eingangstür ließ Annan Thanom aufatmen. Wie immer, wenn seine Tochter von ihrem Spätdienst im Krankenhaus heimkam, hatte er besorgt ihre Rückkehr erwartet. Ein leises Schleifen über Steinfliesen ließ ihn noch einmal in Richtung Flur horchen. Wieso ging sie denn in den Keller? Ihr erster Weg führte normalerweise in die Wohnstube, wo sie Annan meist lesend auf der Couch vorfand. Jetzt ächzte die Tür zum Vorratsraum. Die Geräusche im Haus verwunderten ihn. Zumal eines fehlte: das Klackern ihrer Absätze. Seine Tochter liebte hohe Schuhe und zog sie nicht einmal im Haus aus. Heute jedoch schlich sie umher, als sollte er sie nicht hören.
Über die Schulter rief er ihren Namen. Keine Antwort. Wahrscheinlich hatte sie diese Knöpfe im Ohr, aus denen pausenlos Musik tönte. Annan seufzte und nahm den ziegeldicken Medizinschmöker zur Hand, den er eben beiseite gelegt hatte. Er hob das Buch auf seinen Schoß und schlug es im hinteren Drittel auf. Ungeduldig blätterte er zurück. Ein Zettel ragte lose zwischen den Buchseiten hervor. Mit spitzen Fingern zog er daran und betrachtete ihn voller Unbehagen. Drei Worte waren mit flüchtiger Hand auf das Papier geworfen. Für Annan Thanom bedeuteten sie sein Leben.
Zum wohl zwanzigsten Mal an diesem Abend verglich er die kantigen Buchstaben mit der Unterschrift eines Schriftstücks, das neben ihm auf dem Sofa lag. Ein dunkler Schatten glitt über sein gutmütiges Gesicht.
Erst der sonore Gong einer antiken Pendeluhr riss ihn aus seinen Grübeleien. Halb zwölf schon! Annan ließ das Buch zuklappen. Wo sie nur blieb? Sie hatte ihm noch immer nicht ‚Guten Abend‘ gesagt.
Ein Scheppern im Flur ließ ihn zusammenfahren. War sie etwa gegen die große Bodenvase gestoßen? Die stand ja nun schon ewig da!
Er stutzte, als er mit einem Mal begriff: Da draußen im Flur, das war nicht seine Tochter! Sein Kopf ruckte hoch, seine Sinnesorgane spannten ihre Membranen und jedes einzelne Härchen seines Körpers meldete wie ein Seismograph Gefahr.
Annan lauschte. Doch über dem Rauschen in seinen Ohren vernahm er kein weiteres Geräusch. Hastig legte er Brief und Zettel in das Buch zurück und bedeckte es unter einem Sofakissen. Er blickte sich im Zimmer um, als betrachte er es zum letzten Mal. Dann stemmte er sich aus dem tiefen Ledersofa hoch, bereit sich dem zu stellen, was ihn erwartete. Ein Luftzug streifte Annans Rücken.
Im selben Augenblick schoss ihm ein Brennen in die Seite, als würde ihm kochendes Wasser injiziert. Er jaulte auf und presste eine Hand auf die schmerzende Stelle in seinem Rücken. Sie fühlte sich warm und feucht an und seltsam klebrig. Seine Chirurgenhände ertasteten ein Loch, wo unversehrtes Fleisch hätte sein sollen. Wie durch Watte vernahm er ein Pfeifen, das er zunächst nicht deuten konnte. Doch zusammen mit der Wunde in seinem Rücken machte es Sinn.
Er war angeschossen worden!
Zitternd griff Annan nach der Sofalehne, stützte sich keuchend darauf, während sein Verstand fieberhaft nach einem Ausweg suchte. Zu seinen Füßen breitete sich eine glänzende Lache aus und ihm dämmerte mit eisigem Entsetzen, dass es Blut war. Sein Blut.
Die Götter stehen mir bei, betete er.
Ein zweiter Schlag katapultierte ihn nach vorn und ließ ihn wie einen gefällten Baum in den hölzernen Couchtisch krachen. Das Brennen weitete sich auf seine Brust aus, das seltsame Pfeifen gellte zum zweiten Mal in seinen Ohren. Bevor ihn tiefschwarze Finsternis umfing, galt Annan Thanoms letzter Gedanke seiner Tochter. Saomai.
****
Ein Dutzend Männerköpfe flog hoch, als sie aus dem kuppelförmigen Eingangsportal der „Sky Bar“ ins Freie trat. Die darunter liegende Terrasse war zum Bersten voll mit gestylten Menschen. Saomai verharrte kurz, um in der Menge nach dem einen bekannten Gesicht zu suchen. Die Herren musterten sie wie Freiwild und sie bereute, das knappe Etuikleid gewählt zu haben. Von da unten konnten sie ihr vermutlich bis aufs Höschen sehen. In der Ferne hob sich eine kleine Damenhand. Strassbesetzte Armreifen sprühten Funken, ein wilder Rotschopf reckte sich in die Höhe. Chandra. Saomai rüstete sich für den Abstieg auf der zum Catwalk erleuchteten Freitreppe. Unsicher setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die Finger ihrer linken Hand tasteten nach einem Handlauf, fanden jedoch nur raues Mauerwerk. In leiser Verzweiflung hob sie den Blick. Und verstand, warum Chandra diese Bar gewählt hatte! Es war, als spielten einem hier oben, dreiundsechzig Stockwerke über dem nächtlichen Bangkok, die Sinne einen Streich. Als schritte man auf einem Lichtstrahl hinunter auf die Stadt. Nur dass Saomai nicht das Gefühl hatte, zu schreiten. Ihr vernarbter Fuß schmerzte in dem viel zu hohen Pump und sie spürte, wie sich die Blicke der Männer darauf hefteten. Schon wandten sich einige der Herren ab. Es interessierte sie nicht.
Unten angekommen, kämpfte sich Saomai durch die Cocktails schlürfende Menge, die träge zu den Rhythmen schwerer Club Beats wogte. Endlich erreichte sie ihre Freundin und ließ sich ihr gegenüber in einen Loungesessel fallen.
„Hallo meine Liebe.“
„Hallo“, antwortete Saomai schwach.
Ihr Tisch lag an der äußersten Ecke der Dachterrasse, flankiert von einem gläsernen Geländer, dahinter der Abgrund. In diesem Teil der Bar war es ruhiger, die Musik drang gedämpft herüber. Chandras kreisrundes Thaigesicht mit den stoppelkurzen Haaren tanzte vor Saomai wie ein roter Vollmond über nachtdunklem Meer.
Muss an den Schmerztabletten liegen, dachte sie und schloss die Augen.
„Dir geht es nicht gut, was?“
Chandra klang besorgt.
„Doch, doch, es geht schon“, wehrte Saomai ab. „Es ist nur das erste Mal, dass ich ausgehe, seit…“
Sie ließ den Satz unvollendet.
Die beiden Frauen schwiegen betreten.
Schließlich räusperte sich Chandra und sagte: „Saomai, wir haben uns seit dem schrecklichen Tod deines Vaters nicht mehr gesehen. Es gibt keine Worte, die ausdrücken könnten, wie leid mir das tut!“
„Danke. Ist schon in Ordnung.“
„Nein, das ist es nicht. Lass uns nicht so tun, als könnten wir das heute Abend ausgrenzen“, insistierte sie.
„Ja, du hast vermutlich Recht.“
„Warum hast du nie zurückgerufen?“ fragte ihre Freundin eindringlich. „Ich wollte dir damals doch helfen.“
„Ich weiß“, antwortete Saomai leise. Die schmalen Schultern hoben und senkten sich. „Es ist nur so, dass mir niemand helfen konnte.“
„Das glaube ich nicht! Zumindest braucht man doch jemanden zum Reden, jemanden, der sich um einen kümmert. Du warst plötzlich ganz allein, hast keine Familie mehr. Ich wäre gern für dich da gewesen!“
Saomai sah zu Boden.
„Ja, jemand zum Reden tut schon gut.“ Gerade war es ihr aufgefallen.
„Dann lass uns jetzt reden“, sagte Chandra sanft. „Willst du mir erzählen, was damals passiert ist?“
Saomai seufzte. Sie hatte die Geschichte so oft erzählt. Der Polizei, dem Staatsanwalt, sogar der Presse. Damals, vor fast einem Jahr. Es hatte nichts genützt.
Ein Kellner nahm ihre Bestellung auf. Als er sich abwandte, legte Saomai die Stirn in Falten.
„Es war ein Dienstag“, begann sie zaghaft. „Ich hatte Spätschicht auf meiner Station und eigentlich längst Feierabend. Aber weil mich daheim um die Zeit nichts Besonderes erwartete, sah ich noch bei einem frisch operierten Patienten vorbei. Ich duschte im Krankenhaus, dann erst ging ich heim.“
Sie starrte in die Flamme der Kerze auf dem Tisch vor sich und hatte Mühe, weiter zu sprechen. Als sie es tat, war ihre Stimme brüchig.
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