1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Cassie schluckte.
„Können Sie mir mehr über die Kinder erzählen? Wie sind sie so?“
„Es sind zwei Mädchen im Alter von acht und neun Jahren. Nina ist die Ältere, Venetia die Jüngere. Sie sind gut erzogen.“
Da Ms. Rossi nicht weiter ins Detail ging, nahm Cassie ihren Mut zusammen.
„Könnte ich sie vielleicht kennenlernen? Um zu sehen, wie wir uns verstehen, bevor ich mich entscheide?“
Sie hatte keine Ahnung, ob Ms. Rossi diese Frage als unhöflich bewerten würde, wo sie doch selbst für das Verhalten ihrer Kinder gebürgt hatte.
Die Geschäftsfrau nickte.
„Natürlich. Sie müssten mittlerweile von der Schule zurück sein. Folgen Sie mir.“
Sie stand auf und glitt aus dem Zimmer. Cassie folgte ihr eilig.
Die autoritäre Ausstrahlung beeindruckte Cassie. Wenn diese Aura für die Leitung eines erfolgreichen, internationalen Unternehmens notwendig war, würde sie selbst vermutlich nie so weit kommen. Nicht in einer Million Jahren. Sie besaß weder die Persönlichkeit noch das kommandierende Auftreten von Ms. Rossi.
Doch sie hatte das Gefühl, dass Ms. Rossi sie mochte. Jedenfalls schien sie keine sofortige Abneigung ihr gegenüber zu empfinden, was bei ihren französischen Arbeitgebern der Fall gewesen war.
Cassie folgte ihr die Marmortreppe hinauf. Das Haus war in der Form eines Hufeisens konzipiert worden und besaß zwei Hauptflügel. Die Zimmer der Kinder befanden sich oben, im rechten Flügel des Hufeisens.
Ottavia Rossis klackernder Schritt auf dem Fliesenboden war laut genug, um den Kindern ihre Ankunft mitzuteilen. Cassie beobachtete beeindruckt, wie zwei dunkelhaarige Mädchen aus ihren Schlafzimmern kamen und nebeneinanderstehend auf ihre Mutter warteten.
Sie trugen elegante, langärmelige Kleider, die bis auf die Farbe identisch waren – das eine was gelb, das andere blau. Cassie betrachtete die bunten Mokassins der Mädchen und fragte sich, ob Rossi Shoes auch eine Kinderlinie hatte und diese Modelle dazugehörten.
„Kinder, ich möchte euch Cassie vorstellen“, sagte Ms. Rossi. „Sie ist im Rahmen eines Bewerbungsgesprächs hier und wird möglicherweise ein paar Wochen nach euch sehen. Vielleicht könnt ihr sie begrüßen und ihre Fragen beantworten?“
„Guten Tag, wir freuen uns, dich kennenzulernen“, sagten die Kinder im Chor. Cassie war von ihrem einwandfreien Englisch überrascht.
Das größere Mädchen machte einen Schritt nach vorne.
„Ich bin Nina.“
Sie streckte ihre Hand aus und Cassie, überrascht von der formellen Begrüßung, schüttelte sie.
„Ich bin Venetia“, sagte das jüngere Mädchen.
Cassie schüttelte auch ihre kleine, warme Hand. Und obwohl die Situation eher verlegen war und der formelle Korridor keine ideale Atmosphäre zum entspannten Reden bot, wusste sie, beweisen zu müssen, wie freundlich und liebenswert sie selbst war.
Sie lächelte die Kinder an.
„Ihr beide habt wunderschöne Namen.“
„Danke“, sagte Nina.
„Wart ihr heute in der Schule?“
Venetia antwortete eifrig.
„Ja. Nachmittags machen wir unsere Hausaufgaben. Damit waren wir eben auch beschäftigt.“
„Wow, ihr seid sehr fleißige Mädchen. Welches Schulfach gefällt euch am besten?“
Die beiden Mädchen sahen sich kurz an.
„Englisch“, antwortete Nina.
Venetia dachte kurz nach.
„Ich mag Mathematik.“
Cassie war beeindruckt. Deutlich erkannte sie, wo die Wurzel des Erfolgs lag – schon im jungen Alter Disziplin und eine Liebe zum Lernen zu entwickeln. Sie konnte bereits sehen, dass die Mädchen in die Fußstapfen ihrer Mutter treten wollten und eine goldene Zukunft vor sich hatten.
Diese Mädchen würden vermutlich Gelegenheiten haben, von denen sie selbst nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Kurz wunderte sich Cassie, wie es sich wohl anfühlte, als Erbe eines Modeimperiums und mit einer Liebe zum Lernen geboren worden zu sein.
„Was sind eure Hobbys? Was macht ihr außerhalb der Schule?“
Wieder wechselten die Mädchen einen Blick.
„Ich genieße meinen Gesangsunterricht“, sagte Nina.
„Ich reite gerne. Wir haben beide sonntags Unterricht“, fügte Venetia hinzu.
„Das klingt fantastisch“, sagte Cassie, die sich von dem Leben der Mädchen immer mehr begeistern ließ. Die beiden waren nicht nur motiviert, ehrgeizig und akademisch veranlagt, sondern außerdem in der Lage, Hobbys zu haben, die Cassie sich nie hätte leisten können.
Ihr wurde klar, dass diese Familie in ihrem modernen und gleichzeitig eleganten Haus denen ähnelte, die in den Glanzmagazinen beim Friseur ausgestellt waren. Die Rossis gehörten zur Elite der Gesellschaft und es war aufregend und fast schon überwältigend, mit ihnen verbunden zu sein.
Der einzige Makel ihres sonst so perfekten Lebens muss die Scheidung gewesen sein und Cassie fragte sich, wie Ms. Rossis Ehemann wohl war. Da das Rossi-Imperium von ihrer Seite der Familie begründet worden war, hatte sie nach der Scheidung wohl entweder ihren Mädchennamen zurückgenommen oder seinen Namen gar nie benutzt. Cassie fragte sich, ob die Scheidung die Kinder traumatisiert hatte und ob sie Zeit mit ihrem Vater verbrachten. Es waren Fragen, die sie Ms. Rossi stellen müssen würde – oder vielleicht sogar den Kindern selbst – aber nicht jetzt.
Erschrocken bemerkte Cassie, dass sie bereits einen Schritt übersprungen hatte, als hätte sie schon entschieden, den Job anzunehmen.
Die Kinder sahen sie gespannt an. Sie hatten sich nicht bewegt, als warteten sie auf die Erlaubnis, sich zu verabschieden. Ihre Selbstkontrolle war beeindruckend.
„Danke für das Gespräch“, sagte sie. „Es hat mich sehr gefreut, euch kennenzulernen. Ich möchte euch nicht länger von den Hausaufgaben abhalten.“
„Geht, Kinder“, sagte Ms. Rossi und die Mädchen verschwanden in ihren Zimmern.
Auf dem Rückweg durchs Haus konnte Cassie nicht anders, als die beiden zu loben.
„Sie sind fantastisch. Ich kenne keine anderen Kinder, die so diszipliniert und gehorsam sind. Und mit ihrer Liebe für die Schule müssen Sie sehr stolz auf sie sein.“
Ms. Rossi klang erfreut, als sie antwortete.
„Sie sind nicht perfekt, aber das ist kein Kind“, sagte sie. „Doch sie werden eines Tages ein Unternehmen erben, ich strebe also danach, ihnen die richtigen Werte zu vermitteln.“
Sie traten die große Treppe hinunter und kehrten ins Arbeitszimmer zurück.
„Nun, da Sie die Familie kennengelernt haben, werden wir über die Stelle sprechen“, sagte sie. „Sie sind die erste Kandidatin, die zum Gespräch gekommen ist – nach Abigails Versäumnis waren wir nicht in der Lage, alle Bewerber zu kontaktieren. Sie scheinen kompetent zu sein und auch die Kinder interagieren gut mit Ihnen. Wenn Sie interessiert sind, würde ich Ihnen die Stelle gerne anbieten. Sie müssten mit den Kindern nach der Schule und auch sonntags Zeit verbringen. Unterricht ist von acht Uhr bis halb zwei, wenn keine Nachmittagsaktivitäten geplant sind.“
Cassie atmete tief durch. Sie fühlte sich geehrt, von Ms. Rossi als kompetent genug eingestuft zu werden, ihre zwei außergewöhnlichen Kinder zu beaufsichtigen. Sie hatte nicht einmal um Telefonnummern gebeten, um Cassies Referenzen zu überprüfen.
„Ich glaube daran, dass jede Gelegenheit eine Tür öffnet“, fuhr Ms. Rossi fort. „Wenn Sie Ihre Arbeit gut machen, wird es vielleicht auch in der Zukunft Möglichkeiten für Sie geben. Wir haben regelmäßig Praktikumsstellen; wenn Sie also auch nach dieser Anstellung in Italien bleiben und in der Modeindustrie arbeiten möchten, könnte das vermutlich arrangiert werden.“
Cassies Herz machte einen Sprung. Dieser Job war mehr als nur eine kurzzeitige Anstellung und würde vielleicht sogar ihre zukünftige Karriere beeinflussen. Außerdem würden ihre Chancen steigen, Jacqui zu finden.
Читать дальше