Vor ihr, an einer Ampel, sah sie einen großen fahrenden LKW. Sie trat fest aufs Gas und fühlte, wie ihr Hals zurückwich, als sie beschleunigte. Das Tempolimit war fünfunddreißig, aber sie fuhr fünfundvierzig, dann fünfundfünfzig und schließlich sechzig. Sie war sich sicher, dass, wenn sie den LKW schnell genug anfahren würde, all ihre Schmerzen in einem Augenblick verschwinden würden.
Sie blickte nach links und als sie vorbeiflitzte, sah sie eine Mutter, die mit ihrem kleinen Sohn den Bürgersteig entlang ging. Der Gedanke, dass dieser kleine Junge Zeuge eines Haufens von eingedrücktem Metall, glühendem Feuer und verkohlten Überresten war, holte sie aus ihren Gedanken.
Jessie trat fest auf die Bremse, die Reifen quietschten und sie kam nur wenige Zentimeter vor der Rückseite des LKWs zum Stehen. Sie fuhr auf den Parkplatz der Tankstelle zu ihrer Rechten, parkte und stellte das Auto ab. Sie atmete schwer und Adrenalin strömte durch ihren Körper und ließ ihre Finger und Zehen kribbeln, es fühlte sich schließlich unangenehm an.
Nach etwa fünf Minuten saß sie bewegungslos mit geschlossenen Augen da, ihre Brust hörte auf zu pochen und ihre Atmung normalisierte sich wieder. Sie hörte ein Summen und öffnete die Augen. Es war ihr Handy. Die Nummer verriet ihr, dass es Detektiv Ryan Hernandez vom LAPD war. Er hatte letztes Semester in ihrem Kriminologiekurs einen Vortrag gehalten, wo sie ihn beeindruckt hatte, da sie einen Musterfall gelöst hatte, den er dem Kurs vorgestellt hatte. Er hatte sie auch im Krankenhaus besucht, nachdem Kyle versucht hatte, sie zu töten.
„Hallo, hallo“, sagte Jessie laut zu sich selbst und ging so sicher, dass ihre Stimme normal klang. Fast. Sie nahm den Anruf entgegen.
„Hier ist Jessie.“
„Hallo Frau Hunt. Hier ist Detektiv Ryan Hernandez am Apparat. Erinnern Sie sich an mich?“
„Natürlich“, sagte sie und freute sich, dass sie wie ihr gewohntes Selbst klang. „Was gibt es?“
„Ich weiß, dass Sie kürzlich Ihren Abschluss gemacht haben“, sagte er, seine Stimme klang zögerlicher, als sie sich erinnerte. „Haben Sie bereits einen Job?“
„Noch nicht“, antwortete sie. „Ich wäge gerade meine Optionen ab.“
„Wenn das so ist, würde ich gerne mit Ihnen über einen Job reden.“
Eine Stunde später saß Jessie im Empfangsbereich der Central Community Polizeistation der Los Angeles Polizei, oder wie es allgemein genannt wurde, Downtown Abteilung, wo sie darauf wartete, dass Detektiv Hernandez herauskam, um sie zu treffen. Sie weigerte sich ausdrücklich, darüber nachzudenken, was bei dem Beinaheunfall passieren hätte können. Es war im Moment zu viel, um es zu verarbeiten. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das, was passieren würde.
Hernandez war bei dem Anruf zurückhaltend gewesen und hatte ihr gesagt, dass er nicht ins Detail gehen konnte – nur dass eine Juniorposition offen sei und er an sie gedacht hatte. Er bat sie, persönlich vorbeizukommen, um es zu besprechen, da er ihr Interesse einschätzen wollte, bevor er sie seinen Vorgesetzten gegenüber erwähnte.
Während Jessie wartete, versuchte sie sich daran zu erinnern, was sie über Hernandez wusste. Sie hatte ihn im Herbst diesen Jahres kennengelernt, als er den Kurs ihres Masterstudiengangs für forensische Psychologie besucht hatte, um die praktischen Anwendungen des Profilings zu diskutieren. Es stellte sich heraus, dass er, als er noch Streifenpolizist war, maßgeblich an der Festnahme von Bolton Crutchfield beteiligt war.
In dem Kurs hatte er den Studenten einen komplizierten Mordfall vorgestellt und gefragt, ob jemand den Täter und das Motiv bestimmen könne. Einzig Jessie hatte es durchschaut. Hernandez meinte, dass sie generell erst die zweite Studentin war, die den Fall lösen konnte.
Das nächste Mal, als sie ihn sah, lag sie im Krankenhaus, als sie sich von Kyles Angriff erholte. Sie war zu der Zeit noch ein wenig betäubt, so dass ihr Gedächtnis etwas verschwommen war.
Er war überhaupt nur dort gewesen, weil sie ihn angerufen hatte und Kyles Vergangenheit misstrauisch gegenüber stand, bevor sie ihn im Alter von achtzehn Jahren getroffen hatte, in der Hoffnung, alle Hinweise zu erhalten, die er anbieten konnte. Sie hatte dem Detektiv eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen, und als er sie nach mehreren Anrufen nicht erreichen konnte – vor allem, weil ihr Mann sie in ihrem Haus gefesselt hatte —, hatte er ihr Handy orten lassen und festgestellt, dass sie im Krankenhaus war.
Als er sie besuchte, war er hilfreich gewesen und erklärte ihr den Ermittlungsstand des gegenwärtigen Falles gegen Kyle. Aber er war auch ganz klar misstrauisch (aus gutem Grund), dass Jessie nicht alles getan hatte, was sie konnte, um die Wahrheit zu sagen, nachdem Kyle Natalia Urgova getötet hatte.
Es war wahr. Nachdem Kyle Jessie davon überzeugt hatte, dass sie Natalia selbst in einer betrunkenen Wut getötet hatte, woran sie sich nicht erinnern konnte, hatte er angeboten, das Verbrechen zu vertuschen, indem er die Leiche der Frau auf See ablud. Trotz ihrer damaligen Bedenken war Jessie nicht entschlossen genug gewesen, um zur Polizei zu gehen und zu gestehen. Das war etwas, das sie bis heute bereute.
Hernandez hatte das herausgefunden, aber soweit sie wusste, hatte er danach nie mehr ein Wort darüber verloren. Ein kleiner Teil von ihr befürchtete, dass dies der eigentliche Grund dafür war, dass er sie heute hierher gerufen hatte, und dass der Job nur ein Vorwand war, um sie aufs Polizeirevier zu locken. Sie ging davon aus, dass wenn er sie in einen Verhörraum bringen würde, sie wüsste, in welche Richtung die Dinge laufen würden.
Nach ein paar Minuten erschien er, um sie zu begrüßen. Er war so, wie sie sich an ihn erinnerte, etwa dreißig, gut gebaut, aber nicht allzu imposant. Mit etwa zwei Metern und etwas unter 100 Kilo war er deutlich in guter Verfassung. Erst als er näher kam, erinnerte sie sich daran, wie muskulös er war.
Er hatte kurze schwarze Haare, braune Augen und ein breites, warmes Lächeln, das wahrscheinlich sogar Verdächtige dazu brachte, sich wohl zu fühlen. Sie fragte sich, ob er es aus genau diesem Grund entwickelt hatte. Sie sah den Ehering an seiner linken Hand und erinnerte sich daran, dass er verheiratet war, aber keine Kinder hatte.
„Danke, dass Sie gekommen sind, Frau Hunt“, sagte er und streckte seine Hand aus.
„Bitte nennen Sie mich Jessie“, sagte sie.
„Okay, Jessie. Lass uns zu meinem Schreibtisch gehen und ich werde dich darüber informieren, was ich mir gedacht habe.“
Jessie fühlte eine stärkere als erwartete Welle der Erleichterung, als er nicht den Verhörraum vorschlug, schaffte es aber, es nicht offensichtlich zu machen. Als sie ihm zurück zum Schreibtisch folgte, sprach er leise.
„Ich habe mit deinem Fall Schritt gehalten“, gab er zu. „Oder genauer gesagt, der Fall deines Mannes.“
„Bald Ex“, bemerkte sie.
„Richtig. Das habe ich auch gehört. Keine Pläne, es mit dem Kerl auszuhalten, der versucht hat, dir einen Mord anzuhängen und dich dann zu töten, was? Keine Loyalität mehr heutzutage.“
Er grinste, um sie wissen zu lassen, dass er scherzte. Jessie konnte nicht anders, als von einem Kerl beeindruckt zu sein, der einen Witz über einen Mord gegenüber der Person reißen konnte, die fast ermordet wurde.
„Die Schuld ist überwältigend“, sagte sie und spielte mit.
„Darauf wette ich. Ich muss sagen, es sieht nicht gut aus für deinen baldigen Ex-Ehemann. Selbst wenn die Staatsanwälte nicht auf Todesstrafe plädieren, bezweifle ich, dass er jemals wieder rauskommt.“
„Aus deinem Munde…“ murmelte Jessie und musste den Satz nicht beenden.
„Lass uns zu einem angenehmeren Thema kommen, oder?“ schlug Hernandez vor. „Wie du dich vielleicht von meinem Besuch in eurem Kurs erinnerst, arbeite ich für eine Spezialeinheit im Bereich Raub-Mord, kurz HSS. Wir sind spezialisiert auf hochkarätige Fälle, die viel Medieninteresse oder öffentliche Aufmerksamkeit erwecken. Das kann Brandstiftungen, Morde mit mehreren Opfern, Morde an bekannten Personen und natürlich Serienmörder beinhalten.“
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