„Was mich verwundert ist die Tatsache, dass der Kocher das Einzige ist, das wir haben„sagte der Kommissar. „Ja, es ist Blut drauf. Aber wo sind die Anzeichen von einem Kampf?“
„Meines Erachtens ist das Blut das Anzeichen.“
„Und Sie sind sicher, dass ihr Vater derjenige war, der mit dem Kessel angegriffen hat? Ist es möglich, dass es sein Blut ist?“
„Höchst unwahrscheinlich“ entgegnete Chloe.
Aber schon während er die Frage stellte fing Chloe an, die Alternative zu durchdenken – eine Alternative, der gegenüber sie blind gewesen war, da sie so besorgt um Danielle war. Wenn die Tür unverschlossen war und es keine Anzeichen von einem Kampf gab… wies es mehr darauf hin, dass Danielle der Angreifer, nicht die Angegriffene war. Sie wäre in Eile gegangen. Sie hätte vergessen, die Tür zu verschließen. Und es wäre viel einfacher für sie gewesen, ihren Vater mit dem Kocher anzugreifen, weil er unter keinen Umständen einen Angriff erwartet hätte.
Sie behielt all diese Gedanken für sich. Sie würde Danielle nicht als Angreifer hinstellen. Sie bemerkte, wie der Kommissar sie verdächtig ansah. Als wenn er wusste, wo ihre Gedanken sie hingeführt hatten. Nach kurzer Zeit schrieb er etwas in sein kleines Notizbuch, welches er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, und stand auf.
„Nun, Sie wissen, wie es weiter geht, Agent Fine“ sagte er. „Wir haben nur das Blut als Anhaltspunkt. Wir werden es, wie Sie wissen, analysieren lassen. Und Sie können die Resultate wahrscheinlich schneller als ich einsehen. Aber wir werden sie abholen und die Vorgänge anleiern.“
„Danke“.
„Bitte lassen Sie uns wissen, sollte Ihnen noch etwas einfallen. Sollte, Sie wissen, was ich meine, noch etwas zu Tage kommen.“.
Sein Ton klang als wenn er annahm, dass sie etwas vor ihm verheimlichte. Aber sein Gesichtsausdruck ließ sie wissen, dass er damit kein Problem hatte. Sie war sich sicher, dass er als Kommissar in DC, zumindest schon einen anderen Agenten-bezogenen Fall behandelt hatte oder zumindest mit Leuten gearbeitet hatte, die es getan hatten. Vielleicht waren diese Fälle sogar normal für ihn.
Sie musste sich daran erinnern, dass er sie nicht als panische Schwester, sondern als einen rationalen Agenten sah, der wusste, dass es Abläufe gab. Und, verdammt nochmal, sie wusste, dass es einen Ablauf gab. Sie konnte nicht erwarten, dass alle für etwas, dass für sie sehr persönlich war, alle Regeln und Vorschriften vergaßen.
„Werde ich tun“ sagte sie. „Danke“.
„In der Zwischenzeit werden wir eine Vermisstenanzeige für Ihre Schwester und ihr Auto rausgeben.“
Der Kommissar bewegte sich in Richtung Schlafzimmer, zu den anderen Polizeiangestellten. Chloe stand auch auf, unsicher, was sie jetzt tun sollte, wohin sie gehen sollte. Sie war sich noch immer sicher, dass ihr Vater der Übeltäter hier war; Danielle hatte in der Vergangenheit bedauerliche Dinge getan, aber Chloe traute ihr keinen Mord zu.
Ihr Vater aber war eines Mordes fähig. Die Vergangenheit hatte dies bewiesen.
Und sollten er und Danielle unter angespannten Umständen zusammen sein, war sich Chloe sicher, dass ihr Vater alles tun würde, um ein freier Mann zu bleiben.
Chloe ging zur Tür. Sie fand, dass der nächste logische Schritt ein Besuch bei Danielles Wohnung wäre. Vielleicht würde sie dort Hinweise finden, vielleicht einen Beweis, dass….
Ihre Gedanken wurden wieder durch das Klingeln ihres Handys unterbrochen. Sie ergriff es schnell, diesmal las sie den Namen auf dem Bildschirm, bevor sie antwortete. Sie war nicht überrascht, dass es nicht Danielles Name war, aber war gleichzeitig enttäuscht bei dem Namen, den sie dort sah.
Dir. Johnson.
Sie meldete sich vorsichtig, wollte Johnson keinen Hinweis darauf geben, dass sie die Polizei gerufen hatte. Je weniger Johnson über ihre familiären Probleme wusste, desto besser.
„Hier ist Fine“.
„Fine, Johnson hier. Sind sie derzeit in der Gegend?“
„Jawohl“.
„Fühlen Sie sich ausgeruht? Haben Ihnen die letzten zwei Tage gutgetan?“
„Ich fühle mich großartig, danke“.
„Gut. Sehen Sie, ich weiß, es ist kurzfristig und sehr kurz nach Ihrem letzten Fall, aber ich brauche Sie hier. Ich möchte einen weiteren möglichen Fall mit Ihnen besprechen. Es ist recht dringend, ich wäre Ihnen also für Geschwindigkeit dankbar.“
Für einen Moment fühlte sie sich überwältigt von dem Gedanken, während des ganzen neuen Dramas mit Danielle und ihrem Vater an einem neuen Fall zu arbeiten. Aber sie wusste, dass Johnson Fragen stellen würde, würde sie ablehnen. Und je mehr Fragen er stellte, desto näher käme er an die Wahrheit.
„Ich kann in zehn Minuten da sein“ sagte sie.
„Perfekt“.
Johnson legte auf und hinterließ Chloe in der Wohnung ihres Vaters. Sie hielt noch einen Moment inne, bevor sie sich endlich auf den Weg zur Tür machte. Sie fühlte sich, als verließe sie nicht nur das in der Wohnung verborgende Geheimnis, sondern auch ihre Schwester.
Danielle wusste, dass sie ein schlechtes Leben geführt hatte – ein Leben, welches durch ihren schlechten Geschmack in Männern, ihren Drang zu übermäßigem Genuss von Drogen und Alkohol und ihre Abneigung zu jeglicher Art von Autorität geprägt war. Sie wusste es und stand dazu. Dazu zustehen war, das wusste sie, ein wichtiger Teil des Bewältigungsprozesses. Aber ein positiver Faktor dieser schrecklichen Vergangenheit war, dass sie sie beweglich gehalten hatte – von Wohnort zu Wohnort, Bundesstaat zu Bundesstaat.
Von siebzehn bis fünfundzwanzig hatte sie in neun verschiedenen Städten in fünf verschiedenen Staaten gelebt. So kam es, dass sie Millseed in Texas kannte.
Millseed war ein Scheißort. Als sie vor vier Jahren hier gewohnt hatte, war die winzige Stadt schon am Ende gewesen. Die weniger als vierhundert Einwohner waren kaum genug, den Supermarkt und den Gemischtwarenladen zu unterhalten. Sie lagen in der Stadtmitte wie zwei zerquetschte Fliegen auf einer staubigen Windschutzscheibe.
Es gab nicht einmal ein echtes Wohngebiet in dieser Stadt. Häuser waren hier und dort entlang der unmarkierten zweispurigen Straßen platziert und kurz vor der Stadtgrenze, die eine bessere Welt versprach, lagen zwei Trailer-Parks. Danielle hatte in einem dieser Parks sieben sehr schwierige Monate lang gewohnt. Meth hatte den Park erobert und sie wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, gerade dieser Droge zu widerstehen. Der Mann, mit dem sie zu der Zeit gelebt hatte, war abhängig und saß derzeit eine Haftstrafe wegen mehrfachen Drogenhandels ab.
Aber als sie vor etwas weniger als zwei Tagen in Millseed angekommen war, war sie direkt an dem Trailer-Park vorbeigefahren. Sie war tatsächlich überrascht, dass der Park noch nicht zusammengefallen war. Sie war ungefähr eine halbe Meile weiter gefahren zu einem Gebäude, welches, so hatte sie gehört, mal ein Schlachthaus gewesen war. Es war ein unauffälliges Gebäude, das sich hinter einem leeren, von Unkraut, Ranken und stacheligen Büschen bedeckten Gelände versteckte. Das Gebäude sah noch schlimmer aus, als sie es in Erinnerung hatte. Das schmucklose und schmutzige Aussehen sprach von ruchlosen Geschehen in der Vergangenheit. Nach der Schlachtung von zahllosen Schweinen, war es zur Herstellung von Meth und zweitklassigem Ecstasy genutzt worden. Sie wusste dies, wegen der Gesellschaft, die sie früher gepflegt hatte. Die gleiche lahmarschige Gruppe, die sie nach Millseed geführt hatte.
Aber jetzt fragte sich Danielle, ob sie aus einem anderen Grund nach Millseed geleitet worden war – vielleicht war es göttliche Fügung. Sie hasste die Tatsache, dass dieser Ort der erste gewesen war, der ihr eingefallen war als sie die Idee gehabt hatte. Aber er war perfekt.
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