Ali war hingerissen. Als sie sich umsah, erkannte sie, dass die anderen sie nicht verstanden. Das hier war ein überwältigender Fund! Und sie konnte die Entdeckung mit niemandem feiern. Beruhige dich, sagte sie sich. Trotz ihrer vielen Reisen war Alis Welt ein papiernes Reich aus Linguisten und Bischöfen gewesen. Sie hatte sich in einer sehr ruhigen Nische eingerichtet, die keine ausgelassenen Feste kannte. Trotzdem hätte Ali es schön gefunden, wenn wenigstens einmal jemand einer Champagnerflasche den Hals abgeschlagen und sie mit Schaum bespritzt hätte, wenn ihr jemand um den Hals gefallen und ihr einen herzhaften Kuss aufgedrückt hätte.
»Ich frage mich bloß, was das heißt«, brummte jemand.
»Wer weiß?«, erwiderte Ali. »Wenn Ike Recht hat und es sich wirklich um eine verlorene Sprache handelt, dann wissen es nicht einmal die Hadal. Allein die Tatsache, dass sie die Schrift mit einer Schicht primitiver Bilder übermalt haben, spricht dafür, dass ihnen die Bedeutung völlig abhanden gekommen ist.«
Als sie zu den Flößen zurückgingen, tanzten die fremden Zeichen vor ihren Augen. Es ergab keinen Sinn.
Am fünften September trafen sie die ersten Hadal. Sie hatten gerade an einem mit Fossilien verkrusteten Ufer angelegt, die Flöße entladen, die Ausrüstung auf sichereres Terrain geschleppt und waren dabei, sich zum Schlafen fertig zu machen, als einer der Soldaten in den dunklen Falten des Gesteins weiter hinten ungewöhnliche Formen entdeckte. Wenn sie die Strahlen ihrer Lampen in einem bestimmten Winkel darauf hielten, wurde so etwas wie ein zweites Pompeji sichtbar, mehrere Schichten von Körpern, die von einer dicken Schicht durchsichtigen, kunststoffartigen Gesteins überzogen waren. Die Körper lagen so da, wie sie gestorben waren, einige zusammengekauert, die meisten lang ausgestreckt. Wissenschaftler und Soldaten schwärmten über das fast einen Hektar große Gräberfeld aus, wobei sie immer wieder auf der glatten Oberfläche ausrutschten.
Aus manchen Wunden ragten noch immer spitze Feuersteine heraus. Einige waren enthauptet oder mit ihren eigenen Eingeweiden erdrosselt worden. An allen hatten sich wilde Tiere zu schaffen gemacht. Einzelne Gliedmaßen fehlten, Brust- und Bauchhöhlen waren ausgeräubert. Es handelte sich zweifellos um das Ende eines ganzen Stammes oder der Bewohner eines Dorfes.
Unter Alis hin und her huschender Stirnlampe glänzte die weiße Haut wie Quarzkristall. Trotz der schweren Knochenwülste an Brauen und Wangen und trotz des bestialischen Endes, das sie genommen hatten, wirkten diese Gestalten auffällig fein gezeichnet. Die Toten hatten breite, negroide Nasen und volle Lippen, waren jedoch von der ewigen Nacht zu Albinos gebleicht. Einige hatten Andeutungen von Bartwuchs, kaum mehr als fusselige Ziegenbärtchen. Die meisten sahen kaum älter als dreißig aus. Viele waren noch Kinder.
Ali versuchte, sie in die Familie des Homo sapiens zu integrieren. Es trug nicht eben zur Erleichterung dieser Aufgabe bei, dass sie Hörner auf dem Schädel trugen, dazu Kalziumwülste und -auswüchse, die ihre Köpfe verformten. Sie kam sich merkwürdig bigott vor. Diese Mutationen, Krankheiten oder Launen der Evolution bewirkten, dass sie einen inneren Sicherheitsabstand einhielt. Sie bedauerte es, über sie hinwegzutrampeln, und gleichzeitig war sie froh darüber, dass sie sicher im Stein eingeschlossen waren. Denn sie konnte sich ohne weiteres vorstellen, dass diese Kreaturen all das, was man ihnen angetan hatte, ohne zu zögern auch ihr antun würden.
Ethan Troy deckte eines ihrer Geheimnisse auf. Es war ihm gelungen, einzelne Körper, meistens von Kindern, aus der durchsichtigen Gesteinsmasse herauszuhauen. »Ihr Zahnschmelz ist nicht richtig gewachsen. Er ist gestört worden. Und alle Kinder weisen Spuren von Rachitis oder anderen Missbildungen an den Gliedmaßen auf. Man muss sich nur die aufgeblähten Bäuche ansehen. Sie haben großen Hunger gelitten. Eine Hungersnot. So etwas habe ich einmal in einem Flüchtlingslager in Äthiopien gesehen. Das vergisst man nie wieder.«
»Soll das heißen, dass es sich hier um Flüchtlinge handelt?«, fragte jemand. »Vor wem sollen sie denn geflohen sein?«
»Vor uns«, sagte Troy.
»Willst du damit sagen, Menschen haben sie getötet?«
»Zumindest indirekt. Ihre Nahrungskette wurde unterbrochen. Sie waren auf der Flucht. Vor uns.«
»Quatsch«, raunzte Gitner, der in seinem Schlafsack auf dem Rücken lag. »Falls es Ihnen entgangen sein sollte. Was da aus den Leichen herausragt, sind steinzeitliche Speerspitzen. Wir haben nichts damit zu tun. Diese Leute hier sind von anderen Hadal abgemurkst worden.«
»Das hat nichts damit zu tun«, erwiderte Troy. »Sie waren am Ende ihrer Kräfte. So gut wie verhungert. Eine leichte Beute.«
»Sie haben Recht«, sagte Ike. Er mischte sich nicht oft in Gruppendiskussionen ein, aber diese hier hatte er aufmerksam verfolgt.
»Sie sind unterwegs. Alle. Sie gehen immer tiefer, um unserem Vordringen auszuweichen.«
»Was macht das schon?«, fragte Gitner.
»Sie waren hungrig«, sagte Ike. »Verzweifelt. Das macht schon was.«
»Uralte Geschichte. Dieser Haufen hier ist schon vor langer Zeit gestorben.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Na, dieser merkwürdige Fließstein. Sie sind völlig damit überzogen. Das ist mindestens fünfhundert Jahre her, wahrscheinlich eher fünftausend.« Der Petrologe grinste wissend.
Ike ging zu ihm hinüber. »Leihen Sie mir mal Ihren Gesteinshammer«, sagte er.
Gitner warf ihn Ike zu. In letzter Zeit schien er nur noch genervt zu sein. Die endlosen Debatten über die Querverbindungen der Hadal zu den Menschen ödeten ihn an.
»Wann bekomme ich den wieder?«, fragte er.
»Ist nur geliehen«, erwiderte Ike. »Solange wir schlafen.« Er entfernte sich ein Stück und legte den Hammer gleich neben der Wand flach auf den Boden. Dann ging er weg.
Am nächsten Morgen musste sich Gitner von jemand anderem einen Hammer leihen, um seinen zu befreien. Über Nacht war er von einer zwei Millimeter dicken Schicht Fließstein überzogen worden.
Es war eine ganz einfache Rechnung. Die Flüchtlinge waren vor nicht länger als fünf Monaten hier niedergemetzelt worden. Die Expedition folgte ihrer Fluchtrichtung. Und diese Fährte war so gut wie frisch.
Sogar die Söldner verließen sich inzwischen auf Ikes untrüglichen Sinn für drohende Gefahren. Seit sich herumgesprochen hatte, dass er einmal Bergsteiger gewesen war, nannten sie ihn scherzhaft El Cap, nach El Capitan, dem Monolithen im Yosemite National Park. Es war eine gefährliche Anhänglichkeit, die Ike noch mehr störte als ihren Kommandeur. Ike wollte ihr Vertrauen nicht. Er ging ihnen aus dem Weg. Er hielt sich dem Lager noch mehr fern. Trotzdem bemerkte Ali seinen ungebrochenen Einfluss. Einige der jungen Kerle hatten sich die Arme und das Gesicht wie Ike tätowiert. Manche fingen sogar an, barfuß zu gehen oder die Gewehre quer über die Schulter zu tragen.
Ike verfiel wieder in die Gewohnheit, der Expedition einen oder zwei Tage vorauszugehen. Ali vermisste ihn. Sie wachte immer früh auf, doch jetzt sah sie sein Kajak nicht mehr davongleiten, während das Lager noch im Schlaf lag. Seine Abwesenheit machte ihr Angst, besonders am Abend, bevor sie einschlief. Wenn er weg war, spürte sie immer deutlicher, dass ihr etwas fehlte.
Am neunten September fingen sie das Signal für das zweite Proviantlager auf. Ohne es zu wissen, hatten sie die internationale Datumsgrenze überquert. Als sie den verabredeten Ort erreichten, waren weit und breit keine Zylinder zu sehen. Stattdessen fanden sie eine schwere Stahlkugel von der Größe eines Basketballs auf dem Boden. Sie war mit einem Kabel verbunden, das von der dreißig Meter hohen Decke herabbaumelte.
»He, Shoat«, erkundigte sich jemand gereizt. »Wo ist unser Essen?«
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