Der arme Peregrine Rowbotham hatte in seinem Himmelbett in Rowbotham Hall gelegen und leise geschnarcht. Es war mitten am Nachmittag und eine komische Zeit zum Schlafen, aber Peregrine war die ganze Nacht bis morgens früh um acht auf einer Party gewesen.
Zuerst hatte Peregrine dasselbe wie immer geträumt: Von schönen Mädchen, schnellen Autos und von den Pferden, auf die er gesetzt hatte. Dann änderten sich die Träume allmählich. Er sah purpurrote Heide, reißende Bäche und Moor. Dann sah er ein Felsenriff, das in den wilden Atlantik hinausragte. Es war eine finstere, windzerzauste Gegend mit verkrüppelten Bäumen und einem dunklen, verfallenen Schloß. Peregrine zog es in seinem Traume gerade zu dieser Stelle; mehr als alles andere in der Welt wünschte er sich, dort zu sein. »Insleyfarne«, sagte er im Schlaf. »Ich möchte nach Insleyfarne!«
Ein plötzlich auftretender Krampf in seinem rechten Bein ließ ihn wach werden. Ohne zu wissen, was er tat, begann er, sich anzuziehen ... »Insleyfarne«, wiederholte er, noch in Unterhosen. »Insleyfarne.«
Als er angezogen und in seinen Jaguar gestiegen war, merkte er, daß er nicht direkt zum Flugplatz fahren wollte, wo seine Maschine stand. Irgend etwas ließ ihn nach links statt nach rechts abbiegen, in Richtung Dorf.
»Einsam«, sagte Peregrine mit noch schlaftrunkener Stimme. »Der arme Peregrine braucht Freunde, um nach Insleyfarne zu fliegen.« Und er fuhr direkt zum Gemeindehaus.
Und jetzt flog er mit drei ihm unbekannten Kindern und einem merkwürdigen, spinnwebartigen grauen Gebilde, auf das er immer wieder sehen mußte, wenn er sich umdrehte, nach Norden.
»Es war Hypnose, oder?« sagte Barbara.
Rick zuckte die Achseln. »Hypnose, Willenskraft, Hexerei -es ist alles dasselbe, nehme ich an. Wenn wir nur nicht zu spät kommen.«
Sie flogen über dunkle Seen, Felseninseln, über Fichtenwälder und weite Moorflächen. Das Land wurde wilder, düsterer.
»Insleyfarne!« rief Rick endlich. »Da unten, seht!« Peregrine flog eine Kurve und landete auf einem langen leeren Strand mit festem Sand im Norden des Felsenkaps.
Es ist nicht einfach, mit nur vier Leuten eine Insel, noch dazu eine so große, einzukreisen, aber Lord Bullhaven hatte es geschafft.
Er hatte Mr. Heap auf einen Felsvorsprung unterhalb des Schlosses gesetzt. Mr. Wallace, der nette Geistliche mit den neun Kindern, saß auf dem Kiesstrand neben der Straße, die auf das Festland führte. Mr. Hoare-Croakington saß auf dem Hügel neben dem Raketenschießplatz, und Professor Brassnose befand sich unten bei der zerfallenen Kapelle und der Quelle. Alle hatten sie Klappstühle und Sandwichpakete und Thermosflaschen mit heißem Kaffee, damit sie ohne Unterbrechung exorzieren konnten. Natürlich hatten sie auch Bücher mit Bannsprüchen und Ebereschenzweige. Professor Brassnose hatte zusätzlich Essig und Eisenspäne und Gongs und eine Sammlung von Salben und Puder aus seinem Laboratorium mitgebracht.
Lord Bullhaven war viel zu aufgeregt, um still auf seinem Stuhl sitzenzubleiben. Er lief auf der Insel herum, rief: »Gräßliche Gruselgestalten!« - »Dreckiger Abschaum!« und »Britannien den Briten.« Dabei machte er schiefe Fünfecke aus allem, was ihm in die Hände fiel. Wenn einer der Geisterbeschwörer mal eine Pause machte, um sich die Beine zu vertreten, erschien sofort Lord Bullhaven und brüllte: »Zurück auf den Posten! Zurück, verdammt noch mal!«
Mr. Heap nahm keine Notiz von dem Flugzeug, das über ihm dahinzog und dann zwei oder drei Meilen weiter nördlich landete. Er saß mit dem Rücken zur See, und sein Gesicht war dem Schloß zugewandt. Zigarettenschachteln und Butterbrotpapier lagen um ihn herum, denn er war nicht nur ein gemeiner Kerl, sondern auch ein Umweltverschmutzer. Er rasselte den Geisterbannspruch Nr. 976 mit so viel Haß herunter, daß Spucke auf die Buchseiten tropfte.
»Spinnen, Skorpion, Krötentier, Fahrt zur Hölle jetzt und hier. Blasen, Gallengift und Pest, Böse Krankheit und der Rest. Fort mit Hexe und Vampir, Erde sauber jetzt und hier!«
Und dann saß Mr. Heap plötzlich nicht mehr auf seinem Stuhl, sondern auf einem rutschigen Felsen, und ein kleiner blonder Junge, der aus dem Meer gekommen zu sein schien, beugte sich über ihn. »Bitte hören Sie jetzt auf damit«, sagte Peter Thorne höflich.
»Was ... du ... du ... « Mr. Heap rappelte sich auf und streckte eine große, behaarte Hand aus, um Peter am Hals zu packen.
Aber da war kein Hals mehr, sondern nur noch dünne Luft, und Peter schien sich in eine Kugel aus Blei zu verwandeln, die auf Mr. Heaps fetten, ungeschützten Bauch zuflog.
»Aaaau!« schrie Mr. Heap und fiel auf den Felsen zurück.
Bevor er sich wieder hochgerappelt hatte, lief Peter mit dem Buch die Treppen zum Schloß hinauf. »Gib mir das Buch zurück, du kleiner Mistkerl«, schrie Mr. Heap.
Peter drehte sich auf der obersten Stufe nach ihm um. »Wenn Sie es haben wollen, holen Sie es sich!« rief er und rannte den steilen Klippenweg entlang bis zur Zugbrücke, die den Schloßgraben aus Lehm und Matsch überspannte. Dort blieb er stehen und wartete auf Mr. Heap, der in Schweiß gebadet und vor Wut kochend hinter ihm hergerannt war.
»Hier ist Ihr Buch«, sagte Peter mit honigsüßer Stimme.
Mr. Heap griff danach. Peter kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. Der Uki-Otoshi war schwierig, man mußte ihn sehr genau ansetzen. Peter fiel auf ein Knie, machte das andere Bein ganz steif, und als der fette, keuchende Mann gegen ihn fiel, stieß er mit aller Kraft zu.
Mr. Heap segelte mit all seinen vielen Pfunden durch die Luft und landete mit einem Platscher, der einen Schwarm Möwen in die Flucht schlug, im grünen schlammigen Wasser des Grabens.
In der Zwischenzeit wurde der arme Mr. Hoare-Croakington, der auf dem kahlen Felsen neben dem Raketenschießplatz saß, immer verwirrter. Er war so sicher gewesen, daß man ihn nach Insleyfarne zur Moorhuhnjagd eingeladen hatte. Mr. Hoare-Croakington war noch nie auf Moorhuhnjagd gewesen, er war überhaupt noch nie auf Jagd gewesen, und er hatte sich so darauf gefreut. Aber niemand hatte ihm ein Gewehr und Patronen gegeben. Statt dessen hatte man ihn auf einen Klappstuhl auf einem sehr kalten Hügel gesetzt und ihm befohlen, Gedichte aus einem Buch aufzusagen. Mr. Hoare-Croakington mochte keine Gedichte. Er war enttäuscht und traurig.
Nach einer Weile wurde seine Laune besser, und das hatte folgenden Grund: Im Hotel, wo sie übernachtet hatten, war auf Anordnung von Lord Bullhaven jedem eine Thermosflasche mit Kaffee ausgehändigt worden, damit sie wach blieben. Das überforderte Küchenmädchen hatte die Thermosflasche von Mr. Hoare-Croakington mit der Flasche von General Arkwheeler verwechselt. Und der ließ seine Thermosflasche immer mit purem Whisky füllen. Mit jedem Schluck wurde Mr. Hoare-Croakington fröhlicher, und seine Gedanken gerieten immer mehr durcheinander.
»Spuk (hick) und Pest und Zauberbuch. Treib hinweg (hick, hick) den Geisterfluch«, sang er. Dann machte er: »Bumm-bumm.«
»Nein«, sagte Barbara, die plötzlich aus dem hüfthohen Heidekraut aufgetaucht war.
»Nein?« Mr. Hoare-Croakington war sehr überrascht, sie zu sehen. »Kein Bumm-bumm?« Barbara schüttelte den Kopf. »Hier gibt es doch nichts zum Bumm-bumm-Machen, oder?« Sie wies in die Runde und nahm behutsam das Buch mit den Beschwörungsformeln von den Knien des alten Mannes.
»Moorhühner?« Hoffnung schwang in Mr. Hoare-Croakingtons Stimme.
»Keine Moorhühner hier.« Barbara zerstörte das ziemlich unvollkommene Pentagramm von Mr. Hoare-Croakington mit dem Fuß. »Aber ich weiß, wo es ganz wunderbare Moorhühner gibt. Wenn Sie mir folgen wollen. Große, fette Moorhühner...«
Das gefiel Mr. Hoare-Croakington. »Große, fette Moorhühner...«, wiederholte er verzückt.
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