Oder: »Ich habe mir ein Loch ins Kleid gerissen, aber meine Mutter hat’s mir genäht. Sie arbeitet gern für mich.«
Oder: »Meine Mutter und ich gehen morgen ins Kino.«
Das brach ihrer Lehrerin fast das Herz. Las Navas del Marquas war ein eine Stunde von Avila entferntes Dorf, und wie in allen Dörfern auf der ganzen Welt wusste dort jeder alles über jeden. Dolores Pineros Lebenswandel war eine Schande und wirkte sich auch auf Graciela aus. Mütter verboten ihren Töchtern, mit der Kleinen zu spielen, weil sie fürchteten, sie könnten dadurch verdorben werden. Graciela besuchte die Schule an der Plazoleta del Cristo, aber sie besaß weder Freundinnen noch Spielgefährtinnen. Obwohl sie eine der intelligentesten Schülerinnen war, hatte sie schlechte Noten; sie konnte sich nur schwer konzentrieren, weil sie ständig übermüdet war.
»Du musst früher zu Bett gehen, Graciela«, ermahnte ihre Lehrerin sie, »damit du im Unterricht ausgeruht bist.«
Aber Gracielas Müdigkeit hatte nichts damit zu tun, dass sie zu spät ins Bett gekommen wäre. Sie lebte mit ihrer Mutter in einem winzigen Häuschen mit lediglich zwei Zimmern. Das Mädchen schlief auf einer Couch im Wohnzimmer, das nur durch einen dünnen, verschlissenen Vorhang vom Schlafzimmer abgetrennt war. Wie hätte Graciela ihrer Lehrerin von den obszönen Geräuschen erzählen können, die sie aufweckten und wach hielten, während sie zuhörte, wie sich ihre Mutter mit irgendeinem Unbekannten abgab, der sich zufällig in ihr Bett hatte locken lassen?
Brachte Graciela ihr Zeugnis nach Hause, kreischte ihre Mutter los: »Das sind genau die Scheißnoten, die ich von dir erwartet habe - und weißt du, warum du so schlechte Noten hast? Weil du dumm bist! Saudumm sogar!«
Und Graciela glaubte ihr und bemühte sich sehr, nicht zu weinen.
Nach der Schule streifte Graciela nachmittags allein durchs Dorf - durch schmale, von Pinien und Akazien gesäumte, verwinkelte Straßen, an weiß gekalkten Steinhäusern vorbei, in denen liebevolle Väter mit ihren Familien wohnten. Sie hatte viele Spielgefährten, die jedoch alle nur in ihrer Phantasie existierten: hübsche Mädchen und nette Jungen, von denen sie zu allen ihren Festen eingeladen wurde, wo es herrlichen Kuchen und Eiscreme gab. Ihre imaginären Freunde waren lieb und freundlich und hielten sie alle für sehr klug. In Abwesenheit ihrer Mutter führte Graciela lange Gespräche mit ihnen.
Hilfst du mir bei den Mathehausaufgaben, Graciela? Ich hab ’ immer Schwierigkeiten beim Bruchrechnen, und du kannst es so gut.
Was machen wir heute Abend, Graciela? Wir könnten ins Kino gehen oder einen Spaziergang in die Stadt machen und ein Cola trinken.
Erlaubt deine Mutter dir, dass du heute Abend bei uns isst, Graciela? Es soll Paella geben.
Nein, ich gehe lieber nicht fort. Mama fühlt sich einsam, wenn ich nicht daheim bin. Sie hat eben nur mich, weißt du.
Sonntags stand Graciela früh auf, zog sich leise an, um ihre Mutter und den jeweiligen Onkel in ihrem Bett nicht zu wecken, und ging in die Kirche San Juan Bautista. Dort predigte Pater Perez von den Freuden des Lebens nach dem Tode - ein märchenhaftes Leben mit Jesus -, und Graciela konnte es kaum noch erwarten, zu sterben und zu Jesus zu kommen.
Pater Perez war ein gutaussehender Geistlicher Anfang Vierzig. Seitdem er vor einigen Jahren nach Las Navas del Marquas gekommen war, hatte er Armen wie Reichen, Kranken wie Gesunden gedient, und es gab im Dorf wohl kein Geheimnis, in das er nicht eingeweiht war. Der Pater kannte Graciela als regelmäßige Gottesdienstbesucherin und wusste auch von den ständig wechselnden Männerbekanntschaften, mit denen Dolores Pi-nero ihr Bett teilte. Das war nicht die richtige Umgebung für ein junges Mädchen, aber daran ließ sich nichts ändern. Der Geistliche staunte ohnehin darüber, wie wohlgeraten Graciela war. Sie war höflich und freundlich und klagte niemals über das Leben mit ihrer Mutter.
Zur Messe erschien Graciela jeden Sonntag in einem adretten, sauberen Kleid, das sie bestimmt selbst gewaschen hatte. Pater Perez wusste, dass sie von ihren Altersgenossinnen gemieden wurde, und hatte umso mehr Mitleid mit ihr. Er gewöhnte sich an, jedes Mal nach dem Gottesdienst ein paar Worte mit ihr zu wechseln, und wenn er Zeit hatte, lud er sie in ein kleines Cafe zum Eis ein.
Im Winter war Gracielas Leben düster und eintönig wie die Landschaft rings um das Dorf. Las Navas del Mar-quas lag in einem Tal der Sierra de Cruz Verde, so dass die Winter dort sechs Monate lang dauerten. Die Sommer waren leichter zu ertragen, weil dann Touristen kamen und das Dorf mit Lachen und Leben füllten, das alle Straßen erfasste.
Die Besucher versammelten sich auf der Plaza de Manuel Delgado Barredo mit dem kleinen gemauerten Musikpodium, hörten Volksmusik und beobachteten, wie die Einheimischen die Sardana tanzten: einen jahrhundertealten Kreistanz barfüßiger, einander an den Händen haltender Tänzer in farbenprächtigen Kostümen. Graciela beobachtete die Touristen, wie sie vor Cafes saßen und Aperitivos tranken oder in den kleinen Läden des Dorfs einkauften. Mittags war die Bodega stets voller Touristen, die Chateo tranken und Tapas, Meeresfrüchte, Oliven und Chips aßen.
Am aufregendsten für Graciela war jedoch der allabendliche Paseo. Mädchen und Jungen spazierten in getrennten Gruppen die Plaza Major auf und ab, wobei die Jungen die Mädchen begutachteten, während Eltern, Großeltern und Freunde sie von Straßencafes aus mit Argusaugen beobachteten. Dies war das seit Jahrhunderten eingehaltene traditionelle Paarungsritual. Graciela hätte zu gern daran teilgenommen, aber ihre Mutter verbot es ihr.
»Willst du ‘ne Puta werden?« kreischte sie Graciela an. »Lass dich bloß nicht mit Jungen ein! Die wollen alle nur das eine von dir. Das weiß ich aus Erfahrung«, fügte sie verbittert hinzu.
Waren die Tage gerade noch erträglich, waren die Nächte um so schlimmer. Durch den dünnen Vorhang, der ihre Betten voneinander trennte, konnte Graciela wildes Stöhnen, zuckende Bewegungen und schweres Atmen hören. Und immer wieder Obszönitäten.
»Schneller. fester!«
»Cogeme!«
»Mamame la verga!«
»Metela en culo!«
Noch bevor Graciela zehn Jahre alt war, hatte sie sämtliche obszönen Ausdrücke der spanischen Sprache gehört. Sie wurden geflüstert, geschrieen, geseufzt oder gestöhnt. Die leidenschaftlichen Schreie stießen Graciela ab - und weckten zugleich seltsame Sehnsüchte in ihr.
Der Maure zog ein, als Graciela vierzehn Jahre alt war. Er war der größte Mann, den sie je gesehen hatte: ein schwarzhäutiger Riese mit glattrasiertem Schädel, gewaltigen Schultern, mächtigem Brustkasten und muskelbepackten Armen. Der Maure war mitten in der Nacht gekommen, als Graciela bereits schlief, so dass sie ihn erstmals sah, als er den Vorhang öffnete und auf dem Weg zum Außenabort hinter dem Haus nackt an ihrem Bett vorbeiging. Bei seinem Anblick hatte Graciela Mühe, einen Aufschrei zu unterdrücken. Alles an ihm war so riesig! Damit bringt er Mama um, war ihr erster Gedanke.
Der Maure starrte sie an. »Hm, hm. Und wen haben wir da?«
Dolores Pinero kam hastig aus dem Bett und trat an seine Seite. »Meine Tochter«, sagte sie knapp.
Heißes Schamgefühl durchflutete Graciela, als sie ihre Mutter nackt neben dem Mann stehen sah.
Der Maure lächelte und ließ dabei prachtvoll weiße, ebenmäßige Zähne sehen. »Wie heißt du, Guapa?«
Graciela war wegen seiner Nacktheit so verlegen, dass sie kein Wort herausbrachte.
»Sie heißt Graciela. Sie ist geistig behindert.«
»Sie ist schön. Ich möchte wetten, dass du wie sie ausgesehen hast, als du jung gewesen bist.«
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