Corso legte den Ordner beiseite, um die erste Seite des Buches zu studieren, das den Venezianer das Leben gekostet hatte. DE UMBRARUM REGNI NOVEM PORTIS lautete der Titel. Darunter folgte das sogenannte Signet, das Zeichen des Druk-kers, das manchmal nur die Form eines simplen Monogramms hat, aber auch eine komplizierte Illustration sein kann. Im Fall Aristide Torchias bestand es aus einem Baum, von dem der Blitz einen Ast abspaltet. Eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt, ein ouroboros, kringelte sich um seinen Stamm. Die Abbildung wurde von dem Motto Sie Luceat Lux begleitet: So erstrahle das Licht. Am Fuß der Seite Ort, Name und Datum: Venetiae, apud Aristidem Torchiam. Gedruckt in Venedig, im Hause von Aristide Torchia. Und darunter: M.DC.LX.VI. Cum superiorum privilegio veniaque. Mit Privileg und Genehmigung der Obrigkeiten. Corso tippte weiter:
Exemplar ohne Exlibris und ohne handschriftliche Anmerkungen. Dem Auktionskatalog der Terral-Coy-Sammlung (Claymore, Madrid) zufolge vollständig. Fehler bei Mateu (spricht von 8 statt 9 Holzschnitten in diesem Exemplar). In Folio. 299 x 215 mm. Unbedruckter Vorsatz, 160 Seiten und 9 Holzschnitte außerhalb des Textes, von I bis VIIII durchnumeriert. Seiten: 1 Titelseite mit Druckermarke, 157 Textseiten. Die letzte weiß, ohne Kolophon. Holzschnitte alle Recto, blattgroß. Verso weiß.
Er untersuchte genauestens eine Abbildung nach der anderen. Varo Borja zufolge stammten die Originalzeichnungen ja aus der Feder des leibhaftigen Teufels. Jeder Holzschnitt wurde von einer römischen Ordinalzahl und ihrer jeweiligen Entsprechung im Hebräischen und Griechischen begleitet, sowie von einem lateinischen Satz, der mit Abkürzungen verschlüsselt war. Corso fuhr fort zu schreiben:
I. NEM. PERV.TQVIN.NLEG. CERT.RIT: Ein Ritter reitet auf eine Stadt zu, die mit einer Stadtmauer umgeben ist. Er legt den Zeigefinger an die Lippen, als gemahne er zur Vorsicht oder zum Schweigen.
II. CLAVS. PAT.T: Ein Eremit, der zwei Schlüssel in der Hand hält, steht vor einer verschlossenen Tür. Auf dem Boden steht eine Laterne. Er wird von einem Hund begleitet. Neben ihm ist ein Zeichen abgebildet, das dem hebräischen Buchstaben Teth ähnelt.
III. VERB. D.SVM C.S.TARCAN.: Ein Wanderer oder Pilger geht auf eine Brücke zu, die über einen Fluß führt.
Sie ist an beiden Enden mit einem Turm bewehrt, dessen Tore verschlossen sind. Von einer Wolke aus zielt ein Bogenschütze auf den Weg, der zu der Brücke führt.
IIII. Die lateinische Zahl ist so dargestellt, nicht in ihrer üblichen Form IV) FOR. N.N OMN. A.QVE: Ein Narr mit Schellenkappe steht vor einem Labyrinth aus Stein, dessen Eingangstür auch hier verschlossen ist. Auf dem Boden liegen drei Würfel, von denen jeweils drei Seiten mit einem, zwei und drei Punkten zu sehen sind.
V. FR.ST.A: Ein Geizhals oder Kaufmann zählt einen Sack Goldstücke ab. Hinter seinem Rücken steht der Tod, in einer Hand eine Sanduhr und in der anderen eine Heugabel.
VI. DIT.SCO M.R.: Hier ist die Figur des Gehängten dargestellt, wie man ihn aus den Tarotkarten kennt. Er hat die Hände auf dem Rücken gefesselt und hängt an einem Bein von der Mauerzinne einer Burg. Neben ihm ein Turm mit verschlossenem Tor. Aus einer Schießscharte des Turmes reckt ein Arm mit Panzerhandschuh ein brennendes Schwert heraus.
VII. DIS.S P.TI.R M.: Ein König und ein Bettler spielen Schach. Das Schachbrett hat ausschließlich weiße Felder. Durch ein Fenster, das sich neben einer verschlossenen Tür befindet, scheint der Mond in den Raum. Unter dem Fenster raufen zwei Hunde.
VIII. VIC. I.T VIR.: Ein Scharfrichter mit erhobenem Schwert schickt sich an, eine Frau zu enthaupten, die mit entblößtem Hals vor einer Stadtmauer kniet. Im Hintergrund ein Glücksrad, auf dem sich drei menschliche Figuren in unterschiedlichen Positionen befinden: eine auf dem Scheitelpunkt, eine in aufsteigender, eine in absteigender Richtung.
VIIII. (Auch diese Zahl ist so dargestellt, anstatt des üblichen IX) N.NC SC.O TEN.BR. LVX: Auf einem siebenköpfigen Drachen reitet eine nackte Frau, die ein geöffnetes Buch in der Hand hält. Ein Halbmond, der in ihrem Schoß liegt, verdeckt ihr Geschlecht. Im Hintergrund eine brennende Burg auf einem Hügel, deren Tor - wie die Türen der anderen acht Holzschnitte - verschlossen ist.
Er hörte auf zu tippen, streckte seine steifen Glieder und gähnte. Vom Lichtkegel seiner Arbeitslampe und dem Bildschirm des Computers abgesehen, lag das Zimmer im Dunklen. Durch die Scheiben der Glasveranda drang das schwache Licht der Straßenlaternen zu ihm herauf. Er trat auf den Balkon, um in die Nacht hinauszuspähen, obwohl er eigentlich nicht wußte, was er dort zu sehen erwartete. Vielleicht einen Wagen mit gelöschten Scheinwerfern, an den Bordstein geparkt, und die Umrisse einer schwarzen Gestalt hinterm Steuer. Aber bis auf die Sirene eines Krankenwagens, die sich zwischen den massigen dunklen Häuserblocks verlor, fiel ihm nichts auf. Sein Blick wanderte zur Uhr eines nahegelegenen Kirchturms: Es war fünf Minuten nach Mitternacht.
Er setzte sich wieder vor den Computer und das Buch und betrachtete noch einmal die erste Abbildung, das Signet auf der Titelseite mit der Schlange, die Aristide Torchia sich als Symbol ausgewählt hatte. Sic Luceat Lux. Schlangen und Teufel, Beschwörungsformeln und okkulte Zeichen. Corso hob sein Glas und trank voller Sarkasmus auf das Andenken des Druckers. Er mußte entweder sehr mutig oder sehr dumm gewesen sein. Im Italien des 17. Jahrhunderts bezahlte man solche Scherze teuer, auch wenn man cum superiorum privilégia veniaque druckte.
Moment mal ... Corso starrte in eine Ecke des dunklen Zimmers und verfluchte sich laut. Warum war er da nicht früher draufgekommen? Mit Privileg und Genehmigung der Obrigkeiten? Das konnte ja gar nicht sein!
Seine Augen blickten unverwandt auf die Buchseite, während er sich zurücklehnte und noch eine seiner zerknitterten Zigaretten anzündete. Ihr Rauch stieg spiralförmig im Lichtschein der Lampe auf und bildete einen dünnen, grauen Vorhang, hinter dem die gedruckten Zeilen sich wellten.
Dieses cum superiorum privilégia veniaque war völlig absurd! Oder aber meisterhaft subtil. Unmöglich, daß dieses Imprimatur, diese Druckerlaubnis, von einer der herkömmlichen Obrigkeiten erteilt worden war. Die katholische Kirche hätte im Jahr 1666 niemals ein Buch genehmigt, dessen unmittelbarer Vorgänger - das Delomelanicon - bereits seit fünfundfünfzig Jahren auf dem Index der verbotenen Schriften stand. Demnach bezog Aristide Torchia sich also nicht auf eine Druckerlaubnis der kirchlichen Zensoren. Und auch nicht auf die der weltlichen Behörde, die dafür zuständig gewesen wäre, die Regierung der Republik Venedig. Er mußte zweifellos anderen Obrigkeiten gehorcht haben ...
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