Yeshe sah ihn kurz an und schaute dann weg. »So einfach ist das nicht. Die Leute werden von den Worten erfahren, die Sie gesprochen haben. Manche werden sagen, der Dämon werde von dem Beschwörenden Besitz ergreifen. Andere werden sagen, der Dämon sei eingeladen worden, erneut zu handeln. Khorda hatte recht. Der Name des Dämons bedeutet Unbarmherzigkeit.«
»Ich dachte, der Dämon sei bereits freigelassen.«
Yeshe sah voller Schmerz in seine Hände. »Unsere Dämonen neigen dazu, selbsterfüllend zu sein.«
Shan musterte seinen Begleiter nachdenklich. Er hatte noch nie jemanden kennengelernt, der im einen Moment wie ein Mönch und im nächsten wie ein Parteifunktionär klang. »Was heißt das?«
»Ich weiß es nicht. Es wird etwas geschehen. Es wird zu einer Ausrede.«
»Wofür? Dafür, die Wahrheit zu sagen?«
Yeshe zuckte zusammen und sah wieder aus dem Fenster.
Nur eines, was der Zauberer gesagt hatte, ergab einen Sinn.
Folge Tamdins Pfad. Der Tamdin-Mörder war von der 404ten über die Berge zur Schädelhöhle gegangen. Und Shan mußte diesem Pfad folgen und zu dem schrecklichen, heiligen Ort der toten Lamas zurückkehren.
Ein einzelner Armeelaster mit zwei schläfrigen Soldaten stand an der Abzweigung zur Schädelhöhle und bewachte die Zufahrt, solange Tan das Projekt für die Dauer der Ermittlungen geschlossen hatte. Die plötzlich auftauchenden Besucher ließen die Männer erschrecken und nach den Gewehren greifen. Dann sahen sie Feng am Steuer und entspannten sich wieder.
Als sie in das kleine Tal fuhren, war die Luft merkwürdig ruhig. Über ihnen jagten die Wolken schnell vorüber, aber als sie das kleine Plateau mit dem einzelnen Baum erreichten, bemerkte Shan, daß kein Windhauch die Zweige bewegte. Als er aus dem Wagen stieg, beschlich ihn eine sonderbare Vorahnung. Es war auch kein Geräusch zu hören. Außer dem Braun und Grau der Felsen und der Hütte gab es hier kaum etwas Farbiges, abgesehen von einem neuen Schild, dessen leuchtendrote Buchstaben besagten: ACHTUNG - ZUTRITT AUF ANWEISUNG DES MINISTERIUMS FÜR GEOLOGIE UNTERSAGT.
Yeshe warf Shan einen besorgten Blick zu und folgte ihm dann zum Höhleneingang. Feng blieb zurück, während sie ihre Taschenlampen überprüften, und nahm auffallend gründlich die Reifen des Fahrzeugs in Augenschein.
Die beiden Männer gingen schweigend durch den Eingangstunnel, und mit jedem Schritt fiel Yeshe ein Stück hinter Shan zurück.
»Das hier ist kein...«, setzte Yeshe nervös an, als er Shan am Eingang zur Hauptkammer einholte. Die riesigen Gestalten auf den Wänden schienen im trüben, zitternden Licht der Lampen zu tanzen und die Neuankömmlinge wütend anzustarren.
»Kein was?«
»Kein Ort, an dem...« Yeshe rang mit sich, aber Shan war sich über den Grund dafür nicht sicher. Hatte man ihm befohlen, Shan irgendwie aufzuhalten? Hatte er vielleicht beschlossen, von seiner Aufgabe zurückzutreten?
Die Bilder der Dämonen und Buddhas schienen mit Yeshe zu reden. Er neigte den Kopf in ihre Richtung, und sein Gesicht umwölkte sich, aber es war weder Angst vor den Abbildungen noch Wut auf Shan. Es war nur Schmerz. »Wir sollten nicht hier sein«, sagte er. »Dieser Ort ist nur für die heiligsten Personen.«
»Sie weigern sich aus religiösen Gründen weiterzumachen?«
»Nein«, gab Yeshe abwehrend zurück. Er richtete seinen Blick auf den Höhlenboden und vermied es, die Gemälde anzusehen. »Ich meine, dieser Ort ist nur für die religiösen Minderheiten von Bedeutung.« Er schaute auf, sah Shan aber nicht ins Gesicht. »Das Büro für Religiöse Angelegenheiten verfügt über Spezialisten. Die wären weitaus qualifizierter, um kulturelle Interpretationen vorzunehmen.«
»Wie seltsam. Ich dachte, ein ausgebildeter Mönch wäre eine noch bessere Wahl.«
Yeshe wandte sich ab.
»Ich glaube, Sie haben Angst«, sagte Shan. »Angst davor, daß jemand Ihnen vorwerfen könnte, Tibeter zu sein.«
Yeshe stieß ein Geräusch aus, das fast wie ein Lachen klang, aber als er sich wieder umdrehte, war seine Miene vollkommen ernst.
»Wer sind Sie?« fragte Shan. »Der gute Chinese, der sich danach sehnt, in einer Milliarde gleichgeschalteter Mitbürger aufzugehen? Oder der Tibeter, der erkennt, daß hier Leben auf dem Spiel stehen? Nicht nur eines, sondern viele. Und wir sind die einzigen, die diese Leben vielleicht retten können. Ich. Und Sie.« Yeshe drehte sich um, als habe er etwas gehört, und erstarrte.
Shan folgte seinem Blick. Am anderen Ende der Kammer waren Lichter aufgetaucht, im nächsten Moment wurden aufgeregte Stimmen laut.
Sie schalteten sofort ihre eigenen Lampen aus und wichen in den Tunnel zurück. Tan hatte die Höhle geschlossen. Niemand außer ihnen durfte sie betreten. Draußen hatten keine anderen Fahrzeuge gestanden. Wer auch immer die Eindringlinge waren, sie gingen für den Fall ihrer Entdeckung ein großes Risiko ein.
»Purbas«, flüsterte Yeshe. »Wir müssen verschwinden, schnell.«
»Aber wir haben sie doch eben erst am Markt zurückgelassen.«
»Nein. Ihre Zahl ist groß, und sie sind sehr gefährlich. Ein Erlaß aus der Hauptstadt besagt, es sei die Pflicht eines jeden Bürgers, sie zu melden.«
»Demnach wollen Sie von mir weg, um die Leute zu melden?« fragte Shan.
»Was soll das heißen?«
»Seit wir die purbas auf dem Marktplatz getroffen haben, war die ganze Zeit Sergeant Feng bei uns. Sie haben ihm nichts erzählt.«
»Diese Leute sind Verbrecher.«
»Sie sind Mönche. Werden Sie sie melden?« wiederholte Shan die Frage.
»Falls wir bei der Zusammenarbeit mit ihnen erwischt werden, wird man uns das als eine Verschwörung auslegen«, erwiderte Yeshe voller Qual. »Mindestens fünf Jahre lao gai.«
Shan erkannte, daß die Eindringlinge sich nicht in dem Schädelgang befanden, sondern in einer kleineren Nische in der Mitte der gegenüberliegenden Wand. Er stieß Yeshe vorwärts und schlich sich leise am Rand der großen Kammer entlang. Plötzlich, als keine zehn Meter mehr vor ihnen lagen, zuckte ein gleißender Blitz auf.
Der Fotoapparat war auf die Wandgemälde neben Shan gerichtet, doch der Blitz traf ihn dennoch mitten ins Gesicht und blendete ihn. Ein schriller Schrei zerriß die Stille und wurde abrupt erstickt. »Verflucht«, stöhnte jemand anders, dessen Stimme deutlich tiefer war.
Shan schirmte die Augen vor einem weiteren Blitz ab und schaltete seine Lampe ein. Rebecca Fowler starrte ihnen wie betäubt entgegen. Sie hatte eine Hand auf die Brust gelegt, als hätte man ihr dort einen Stoß versetzt.
»Meine Güte«, sagte der Mann mit der Kamera. »Ich habe tatsächlich einen Moment lang geglaubt, ich hätte ein Gespenst gesehen.« Tyler Kincaid stieß ein kurzes, gequältes Lachen aus und richtete einen starken Handstrahler auf die Höhle hinter ihnen. »Sind Sie allein?«
»Die Armee ist draußen«, rief Yeshe, als wolle er den Amerikanern drohen.
»Sergeant Feng ist draußen«, korrigierte Shan.
»Tja, hier sind wir also«, sagte Kincaid und machte noch ein Foto. »Wie Diebe in der Nacht, könnte man sagen.«
»Diebe?«
»Bloß ein Scherz - ich meine, wie Sie hier ohne Licht herumschleichen. So ganz offiziell kommt mir das nicht vor.«
»Und falls man mich fragt, wie soll ich die Verbindung zwischen dieser Höhle und Ihrem Minenprojekt erklären, Miss Fowler?« fragte Shan.
Kincaids Bemerkung schien ihr Selbstvertrauen wiederhergestellt zu haben. »Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Die UN-Kommission für Altertümer. Wer wird danach fragen?« Sie neigte den Kopf. »Und wieso sind Sie hier?«
Shan ignorierte die Frage. »Und Mr. Kincaid?«
»Ich habe ihn gebeten mitzukommen. Wegen der Bilder.«
Shan erinnerte sich an die Fotos der Tibeter im Büro des Amerikaners.
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