Als Babsy ihr eine andere Lösung vorschlägt, die ihr eine lange Krankschreibung einbringen wird, hält sie die Idee zuerst für einen Scherz.
Ich soll was tun?
Hab nur meine Hilfe angeboten, Babsy zuckt mit den Schultern, ist deine Entscheidung.
Du willst mir den Arm brechen? Mit einer Eisenstange?
Warum nicht? Das bringt mindestens zwei Monate, es dauert, bis ein Bruch verheilt.
Ihre Gedanken rasen. Sie will es nicht, und doch, sie muss verrückt sein, sie hält es für eine Möglichkeit.
Wir nehmen den linken Unterarm, Babsy lacht leise vor sich hin und schiebt zwei Stühle bis auf einen Abstand von ungefähr 15 Zentimetern zusammen, über diese Lücke soll sie ihren Arm legen. Sie folgt der Anweisung, schließt die Augen, hört die Eisenstange, zieht den Arm weg.
Es ist dein Problem, sagt Babsy, nicht meins.
Ein Zittern durchläuft ihren Körper. Babsy nennt sich ihre Freundin, doch was weiß sie schon von ihr? — dies zu denken erscheint ihr anstrengend, laut ihre Zweifel auszusprechen hält sie für unausführbar. Sie spürt eine Müdigkeit im Nacken, als solle sie die Eisenstange dort treffen. Sonnenlicht dringt durch ihre geschlossenen Lider. Sie zieht den Arm nicht zurück.
Im Nachhinein bildet sie sich ein, gehört zu haben, wie ihre Knochen splittern. Doch das kann nicht sein, denn der Arzt konstatiert nach dem Röntgen einen sauberen Bruch.
Wegen ihres Gipsarms wird sie dazu eingeteilt, die Kühe auf die Weide zu bringen. Mit einem Stock in der rechten beweglichen Hand treibt sie die Tiere die Feldwege entlang. In der Luft liegt der Geruch nach Mist und Silage. Sie schließt das Gatter hinter den Tieren und legt sich ins Gras.
Sie hat heute Geburtstag, ihren siebzehnten. Eigentlich wollte sie ihn feiern, doch dann wusste sie nicht, wie. Sie hat noch immer nicht zugelegt, kein Gramm Fett für schlechte Zeiten auf den Rippen. Kleiderstange hat sie kürzlich der Nachtwächter genannt, Kleiderstange, du musst mehr essen, hat er ihr mit besorgtem Spott hinterhergerufen. Dabei isst sie in der Kantine mehr als die Männer, im Kühlhaus trinkt sie den Rahm von der Milch, nur um endlich zuzunehmen. Sie hat wieder zu lesen begonnen, auf Schritt und Tritt trägt sie ein Buch bei sich. Sie glaubt, immer noch Jungfrau zu sein, die Jungs halten sie für verklemmt. Ihre Lehre wird sie wahrscheinlich abbrechen, sie kann sich nicht vorstellen, hierzubleiben. Sie hat der Mutter geschrieben. In einem Brief macht sie ihr wütende Vorwürfe, in einem anderen schreibt sie, alles sei in Ordnung. Sie hat keinen der Briefe abgeschickt.
Sie hört einen Vogelschwarm, bevor sie ihn sieht, Wildenten, die Richtung Süden ziehen. Sie stellt sich vor, mit ihnen zu fliegen, egal wohin. Sie steigt schwerelos empor, betrachtet die Welt von oben, sieht sich selbst im Gras liegen, die Arme ausgebreitet, alles ist nah und doch so unendlich weit entfernt, sie fliegt höher und höher, bis sie ganz verschwunden ist.
Das Buch Die berührende Geschichte einer Selbstbehauptung
Angelika Klüssendorf erzählt von einem jungen starken Mädchen, das sich herausarbeitet aus allem, was sie umgibt und niederhält: die tyrannische Mutter, die autoritären Lehrer, der bürokratische Staatsapparat. Am Anfang scheint alles schon zu Ende zu sein: Der Vater trinkt und taucht nur sporadisch auf, die Mutter lässt ihre Wut an den Kindern aus, die Klassenkameraden meiden das Mädchen, der jüngere Bruder kapselt sich völlig ab. Und doch gibt es eine Kraft, die das Mädchen trägt. Die Bilder aus» Brehms Tierleben«, die sie bewundert, der Traum vom kleinen Haus mit Garten auf dem Lande, Grimms Märchen. Und immer wieder Menschen, die ihr etwas bedeuten und die sie halten. Eines hat sie gelernt: Man muss sich holen, was man braucht. Auch wenn sie mehrfach beim Ladendiebstahl erwischt und schließlich ins Heim gesteckt wird, kann sie sich auch dort auf die neue Lage einstellen. Und das Kinderheim wird auf überraschende Weise zu einem Refugium, wo Kindheit erstmals gelebt werden kann. Mit ihrer klaren, knappen, präzisen Prosa, großer Lakonie und trockenem Humor versetzt Angelika Klüssendorf den Leser in eine Welt, die das Kindsein kaum zulässt. Atemlos folgt man einer Heranwachsenden, die nichts hat, worauf sie sich verlassen kann, und trotzdem den Lebenswillen nicht verliert — kein bemitleidenswertes Opfer, sondern ein starker, abgründiger Charakter. Ein literarisches Meisterwerk!
Angelika Klüssendorf, die kühle Meisterin unter den Meistern der Gesellschaftsprosa, analysiert präziser als John Updike und konsequenter als Max Frisch, sie schreibt böser als Thomas Bernhard und pointierter als Ingeborg Bachmann. Fürchterlich, aber grandios. «Evelyn Finger, Die Zeit
Angelika Klüssendorf,geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute lebt sie in Berlin. Sie veröffentlichte unter anderem die Erzählungen» Sehnsüchte «und» Anfall von Glück«, den Roman» Alle leben so«, den Erzählungsband» Aus allen Himmeln «und zuletzt den Erzählungsband» Amateure«.