„Seht, wie sie sich freuen!“ Der Weihnachtsmann zeigte nach unten, wo gerade ein paar Menschen stehen blieben und nach oben zeigten. „Ja“, nickte er zufrieden, „so soll es sein. Und nun haltet brav über dem kleinen roten Haus dort vorne, meine lieben Rentiere, damit ich die ersten Kinder beschenken kann.“
Voller Vorfreude stieg er aus seinem Schlitten, schnappte sich den Geschenkesack und sauste mit lautem „Ho! Ho! Ho!“ durch den Schornstein. Unten angekommen, krabbelte er aus dem Kamin, stand auf und zuppelte ein wenig seine Kleidung zurecht. Schließlich wollte er einen guten Eindruck machen.
„Seid ihr denn auch alle brav gewesen?“, stellte er die jährliche Frage. Keine Antwort. Verwirrt blickte sich der Weihnachtsmann um. Wo waren denn die Kinder? Hoffentlich war niemand krank geworden. Aber halt. Nun sah er sich genauer um. Kein geschmückter Tannenbaum, keine Kerzen, kein Duft nach frischgebackenen Plätzchen und kein Glas Milch für den fleißigen Weihnachtsmann. Völlig fassungslos ließ er sich in den nächsten Sessel plumpsen. Während er überlegte, was hier wohl los sei, öffnete sich plötzlich die Haustür und herein kamen ... die Kinder. Völlig durchgefroren sahen sie aus, was kein Wunder war, schließlich trugen sie ihre Badekleidung und das mitten im Winter. Na, mit den Eltern sollte aber mal jemand ein ernstes Wörtchen reden, dachte der Weihnachtsmann entrüstet.
Aber dann hörte er die Worte des kleinen Timmi: „Mama, wieso schneit es plötzlich mitten im Sommer?“
Der Mutter blieb die Antwort im Halse stecken, da sie gerade sah, wer da ein halbes Jahr zu früh in ihrem Sessel hockte.
„Ho ho ho ...“, machte der Weihnachtsmann leise und zuckte verlegen mit den Schultern.
Nicole Vergin, geboren 1969 in Hannover, ist heute wohnhaft nahe des Steinhuder Meeres.
*
Weihnachten im Märchenwald
Wie in jedem Jahr so war auch dieses Mal die erste Station des Weihnachtsmannes auf seiner langen Reise durch die Heilige Nacht der Märchenwald. Er hatte den Schlitten bis zur höchstzulässigen Achslast beladen und seine acht neuen Rentiere waren besonders kräftige Exemplare. Fröhlich ein Liedchen pfeifend, eilte er durch den schneebedeckten Wald, rief ein aufmunterndes „Schneller, meine Lieben“ zu seinem Gespann und betrachtete stolz das glitzernde Funkeln in den vereisten Bäumen, bis ... ja, bis plötzlich auf seinem Weg ein umgestürzter Baumstamm auftauchte.
Da der Weihnachtsmann gerade abgelenkt war und die eine Hälfte seines Gespannes nach links, die andere jedoch rechts am Baum vorbeiziehen wollte, hüpfte sein Schlitten über das Hindernis und knallte hart auf den Boden. Der Weihnachtsmann purzelte aus seinem Schlitten und landete mit einem schweren Plumps im Schnee. Für einen kurzen Moment konnte er noch sehen, wie die Rentiere mit seinem Schlitten im Wald verschwanden, dann wurde es schwarz um ihn.
Im Schloss des Märchenlandes war bereits alles in heller Aufregung. Die Königin inspizierte die geschmückten Weihnachtsbäume und mäkelte hier an einem zu krumm stehenden, bemängelte dort eine falsch hängende Kugel und schickte ihre Diener in alle Himmelsrichtungen, um noch mehr Plätzchen, Wein, Naschwerk und andere Spezereien für das Fest zu besorgen. Da klopfte es an der Schlosstür.
„Das wird doch nicht schon der Weihnachtsmann sein“, rief sie und öffnete das große Tor. Dort stand aber nur Horst, der ewig frierende Schneemann, der trotz dicker Handschuhe, einem Wollschal und mehrerer bereits genossener Gläser Glühwein am ganzen Körper zitterte.
„Frau Königin, Frau Königin, es ist etwas ganz Furchtbares passiert“, rief er aufgeregt.
Die Königin gab sich gelassen: „Willst du mir schon wieder sagen, dass die Temperatur um ein Grad gesunken ist?“
„Nein, Frau Königin, es ist viel schlimmer“, antwortete Horst und deutete nach draußen. Dort tauchten die sieben Zwerge auf, die einen gläsernen Sarg zum Schlossberg hinauftrugen.
„Hat sich unser Schneewittchen schon wieder einen Schönheitsschlaf gegönnt?“, fragte die Königin verärgert, doch dann sah sie, wie schwer die Zwerge an dem Sarg zu tragen hatten.
„Wen bringen sie mir denn da?“, fragte sie.
„Es ist so furchtbar“, jammerte der Schneemann, „die Zwerge haben den Weihnachtsmann im Wald gefunden ...“
„Ist er etwa tot?“, rief die Königin entsetzt.
„Nein, nein“, entgegnete Horst rasch, „sie haben ihn nur in den Glassarg gelegt, weil er dann leichter für sie zu tragen ist. Wir haben ihm doch schon im letzten Jahr geraten, er solle mehr auf sein Gewicht achten. Aber er muss ja immer von allen Süßigkeiten probieren, die er den Kindern schenkt – Qualitätskontrolle nennt er das.“
Die Königin schüttelte den Schneemann so heftig, dass ein Teil seines linken Armes zerbröselte und auf den Boden fiel. „Nun sag mir endlich, was ist mit dem Weihnachtsmann?“
„Aua, Ihr tut mir ja weh“, schrie Horst, dann fügte er rasch hinzu: „Ohnmächtig ist er nur, völlig weggetreten. Dem geht es auf jeden Fall besser als mir.“ Zum Beweis hustete der Schneemann laut, doch sein klagendes „Diese Bronchitis werde ich in diesem Winter einfach nicht mehr los“, hörte die Königin schon gar nicht mehr. Rasch eilte sie den Zwergen entgegen. „Schnell“, rief sie ihnen zu, „bringt ihn in meine warme Kammer, damit er sich erholen kann.“
Horst, der diese Gelegenheit zum Aufwärmen ebenfalls nutzen wollte und mit den Zwergen gerade durch das Schloss-tor huschte, befahl sie: „Du sagst schnell den anderen im Märchenwald Bescheid.“
Bald schon waren alle um das Bett der Königin versammelt, in dem der Weihnachtsmann schnarchend und mit blassem Gesicht schlief.
„Wenn er doch nur aufwachen würde“, sprach die Königin besorgt. Die anderen nickten beifällig. In diesem Moment verstummte sein Schnarchen und er öffnete tatsächlich die Augen.
„Wo bin ich?“, fragte er krächzend.
„Sie sind im Märchenland, lieber Weihnachtsmann“, antwortete die Königin erleichtert und so warmherzig, wie nur Königinnen sein können.
„Im Märchenland?“, röchelte der Weihnachtsmann verwundert. „Bitte, wie soll mein Name sein?“
„Weihnachtsmann“, antwortete die Königin.
„Weihnachtsmann?“, wiederholte er, „den Namen habe ich schon einmal gehört. Wer ist das?“
Die Königin war entsetzt. „Könnt Ihr Euch denn an gar nichts erinnern?“
Der Weihnachtsmann dachte lange nach, dann schüttelte er müde den Kopf. „An überhaupt nichts“, antwortete er resigniert.
„Das ist ja furchtbar“, stöhnte die Königin und alle anderen im Raum stimmten mit ein: „Furchtbar!“
Horst, der endlich ein warmes Plätzchen gefunden hatte, drängelte sich nach vorn, schaute dem Weihnachtsmann tieftraurig in seine kristallblauen Augen und fragte: „Hast du etwa auch vergessen, dass ich mir einen großen Ofen zu Weihnachten gewünscht habe?“ Sofort stürmten auch die anderen zum Bett und überschütteten den Weihnachtsmann mit tausend Fragen nach ihren Geschenken. Der versuchte tapfer, jedem zuzuhören. „Von Euren Geschenken weiß ich nichts. Aber ihr seid sicher, dass ich der Weihnachtsmann bin?“
Die Königin hob die Hände und alle verstummten. „Ihr seht doch, es hat keinen Sinn, er kann sich an nichts mehr erinnern. Jetzt überlegt schnell, wie wir ihm helfen können.“
„Wir müssen erst einmal seinen Schlitten mit den Geschenken finden“, rief der Schneemann und jeder war von dem Vorschlag begeistert. Rasch leerte sich der Raum und nur der Weihnachtsmann blieb allein zurück. Seine verzweifelte Frage „Nun sagt mir doch, bin ich wirklich der Weihnachtsmann?“, verhallte unbeantwortet.
Alle Märchenwaldbewohner liefen aufgeregt im Land umher und suchten nach dem Schlitten. Fast alle, wie die Königin feststellte, denn es fehlten Hänsel und Gretel. Sie ließ sich zu deren Häuschen bringen und klopfte energisch an die Türe. Zunächst war nichts zu hören. Als aber der Wolf, der sie begleitet hatte, laut schrie „Kommt raus oder ich fresse euch“, öffnete sich ganz vorsichtig die Pforte. Mit schokoladenverschmierten Mündern standen Hänsel und Gretel vor ihr und blickten schuldbewusst zu Boden.
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