Oben in der Wohnung gebot ihr Macquart, ihren Mann zu holen.
Mein Mann ist nicht da, sagte sie sehr ruhig; er ist in Geschäften verreist; um sechs Uhr abends ist er mit der Eilpost nach Marseille gefahren.
Antoine fuhr wütend auf, als er diese mit klarer Stimme abgegebene Erklärung vernahm. Hastigen Schrittes trat er in das Empfangszimmer, von da in das Schlafzimmer, durchwühlte das Bett, schaute unter die Vorhänge und unter die Möbel. Die vier langen Burschen waren ihm bei diesem Tun behilflich. Eine Viertelstunde lang durchstöberten sie die ganze Wohnung. Felicité hatte sich inzwischen ruhig auf dem Sofa im Empfangszimmer niedergelassen und machte sich mit dem Schnüren ihrer Röcke zu schaffen, wie eine Person, die in ihrer Nachtruhe gestört worden ist und noch nicht Zeit gefunden hat, sich in schicklicher Weise anzukleiden.
Es ist also wahr, der Feigling hat sich geflüchtet? stotterte Macquart, in den Salon zurückkehrend.
Dabei fuhr er fort, argwöhnisch um sich zu blicken. Er hatte das Gefühl, daß Peter unmöglich das Spiel im entscheidenden Momente aufgegeben haben konnte. Er näherte sich Felicité und sagte:
Zeige uns den Ort, wo dein Mann versteckt ist und ich verspreche dir, daß ihm kein Leid zugefügt werden soll.
Ich habe euch die Wahrheit gesagt, erwiderte sie ungeduldig. Ich kann euch meinen Mann nicht ausliefern, wenn er nicht da ist. Ihr habt überall gesucht, laßt mich jetzt in Frieden.
Durch Felicités Kaltblütigkeit zum äußersten getrieben, war Macquart auf dem Sprunge, sie zu mißhandeln, als von der Straße her ein dumpfes Geräusch sich vernehmbar machte. Es war die Rotte der Aufständischen, die in die Banne-Straße einmarschierte.
Antoine verließ nun das gelbe Zimmer, nicht ohne vorher seine Schwägerin mit der Faust zu bedrohen und der »alten Gaunerin« seine Wiederkehr in Aussicht zu stellen. Am Fuße der Treppe nahm er einen der Männer, die ihn begleitet hatten, einen Erdarbeiter namens Cassoute, beiseite und gebot ihm, sich auf der ersten Treppenstufe niederzulassen und bis auf weitere Weisung sich nicht vom Fleck zu rühren.
Wenn der Halunke heimkehrt, wirst du mich davon benachrichtigen, sagte er.
Der Mann ließ sich schwerfällig auf der Treppenstufe nieder.
Als Macquart wieder auf der Straße war, sah er Felicité, an eines der Fenster des gelben Zimmers gelehnt, neugierig den Zug der Aufständischen betrachten, als habe es sich um ein Regiment gehandelt, das mit klingendem Spiel durch die Stadt zieht. Dieser letzte Beweis ihrer vollkommenen Ruhe reizte ihn dermaßen, daß er sich versucht fühlte, wieder hinaufzugehen und die alte Frau auf die Straße hinabzuwerfen. Er folgte indes der Bande und brummte mit dumpfer Stimme vor sich hin:
Ja, ja, schau nur zu; wir wollen sehen, ob du morgen noch an deinem Balkon stehst.
Es war nahezu elf Uhr, als die Aufständischen durch das römische Tor die Stadt betraten. Die in Plassans zurückgebliebenen Arbeiter öffneten ihnen dieses Tor angelweit trotz des Jammerns des Torwarts, dem man gewaltsam die Schlüssel entreißen mußte. Dieser auf sein Amt sehr eifersüchtige Mann war völlig vernichtet angesichts dieser großen Menschenmenge. Er, der sonst nur einen Menschen auf einmal einließ, und auch dann erst, nachdem er ihn lange betrachtet hatte, brummte jetzt, er sei entehrt. An der Spitze der Truppe marschierten die Männer von Plassans als Führer der anderen. In der vordersten Reihe ging Miette zur Linken Silvères, stolz das Banner schwingend, seitdem sie merkte, daß hinter den geschlossenen Fenstervorhängen die aus dem Schlafe aufgestörten Spießbürger mit erschrockenen Blicken den Zug betrachteten. Die Aufständischen schritten mit bedächtiger Langsamkeit durch die Rom- und die Banne-Straße; bei jeder Straßenkreuzung fürchteten sie mit Gewehrschüssen empfangen zu werden, obgleich ihnen die ruhige Gemütsart der Bewohner von Plassans wohlbekannt war. Doch die Stadt schien ausgestorben; nur hier und da vernahm man einen halb unterdrückten Ausruf an einem Fenster. In einigen wenigen Häusern wurde der Vorhang aufgezogen, und es ward irgendein alter Rentenbesitzer sichtbar, der im Hemde mit einer Kerze in der Hand sich vorneigte, um besser zu sehen. Wenn der alte Mann aber das große, rote Mädchen sah, das diese Menge schwarzer Teufel hinter sich einherzuschleppen schien, schloß er rasch sein Fenster, entsetzt über diese teuflische Erscheinung. Die Stille der schlafenden Stadt beruhigte die Aufständischen, die sich nun auch in die Gäßchen der Altstadt wagten und so auf dem Marktplatze und dem Rathausplatze ankamen, die eine kurze, breite Straße miteinander verbindet. Diese beiden mit kümmerlich gedeihenden Bäumen bepflanzten Plätze waren vom Mondschein hell erleuchtet. Das eben erst instand gesetzte Rathausgebäude bildete am Saume des klaren Nachthimmels einen großen, grellweißen Fleck, von dem der Balkon des ersten Stockwerkes die Verschlingungen seines schmiedeeisernen Geländers in dünnen, schwarzen Linien abhob. Man bemerkte ganz deutlich mehrere Personen auf dem Balkon stehen: den Bürgermeister, den Major Sicardot, drei oder vier Gemeinderäte und andere Beamte. Die Tore des Hauses waren geschlossen. Die dreitausend Republikaner, die die beiden Plätze füllten, blieben stehen, reckten die Hälse und waren bereit, mit dem ersten Ansturm die Tore einzurennen.
Die Ankunft der Aufständischen zu solcher Stunde traf die Stadtbehörde unvorbereitet. Der Major Sicardot hatte, ehe er sich aufs Rathaus begab, rasch seine Uniform angezogen. Er mußte dann noch zum Bürgermeister laufen, um diesen zu wecken. Als der Wächter am römischen Tor, den die Aufständischen freigelassen hatten, gelaufen kam, um zu melden, daß die Bösewichte in der Stadt seien, hatte der Major mit vieler Mühe kaum zwanzig Mann der Bürgerwehr zusammengebracht. Selbst die Gendarmen, deren Kaserne ganz in der Nähe lag, hatte man noch nicht benachrichtigen können. Man hatte nur rasch die Tore zugeworfen, um zu beratschlagen. Fünf Minuten später verkündete ein dumpfes und anhaltendes Geräusch das Herannahen der Bande.
Aus Haß gegen die Republik hätte Herr Garçonnet sich am liebsten zur Wehre gesetzt. Doch er war ein vorsichtiger Mann, der die Nutzlosigkeit des Kampfes begriff, als er sich von einigen bleichen und schlaftrunkenen Männern umgeben sah. Die Beratung dauerte nicht lange. Herr Sicardot allein zeigte sich widerspenstig; er wollte sich schlagen und behauptete, zwanzig Mann genügten, um diesen dreitausend Halunken die Köpfe zurecht zu setzen. Herr Garçonnet zuckte mit den Achseln und erklärte, man könne nichts tun, als sich ehrenhaft unterwerfen. Da das Getöse der Menge immer mehr anwuchs, begab er sich auf den Balkon, wohin alle anwesenden Personen ihm folgten. Allmählich trat Stille ein. In der dunkeln und wimmelnden Menge der Aufständischen unten auf dem Platze glänzten die Gewehrläufe und Sensen im Mondlichte.
Wer seid ihr und was wollt ihr? rief der Bürgermeister mit kräftiger Stimme.
Da trat ein Mann im Überrock, ein kleiner Landwirt aus La Palud, aus der Menge hervor.
Öffnet das Tor, antwortete er, die Frage des Herrn Garçonnet unbeachtet lassend, öffnet und vermeidet einen brudermörderischen Kampf.
Ich befehle euch, eures Weges zu ziehen, rief der Bürgermeister. Ich verwahre mich im Namen des Gesetzes!
Diese Worte erregten ein betäubendes Geschrei in der Menge. Als der Lärm sich ein wenig gelegt hatte, wurden ungestüme Fragen zu dem Balkon hinaufgeschrien. Einige riefen:
Wir sind ja eben im Namen des Gesetzes gekommen!
Sie haben als erster Beamter der Stadt die Pflicht, dem schmählich verletzten Grundgesetze des Landes, der Verfassung, Achtung zu verschaffen!
Hoch die Verfassung! Es lebe die Republik!
Als Herr Garçonnet versuchte, sich Gehör zu verschaffen, und sich weiterhin auf sein Amt berief, unterbrach ihn der Mann aus La Palud, der unter dem Balkon stehen geblieben war, sehr energisch.
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