Magnus Dellwig - 1918 - Wilhelm und Wilson
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Kronprinz Wilhelm lehnt sich gemächlich zurück. Er bietet seinen drei Gästen Zigarre oder Zigarette an. Selbst wählt er eine leichte kubanische Zigarre und zündet diese genussvoll an.
„Stresemann, sie sind ein Mann von Ehre und Format! Ich danke ihnen für die klaren Worte, noch mehr für die tadellose Gesinnung, die dahinter steht. In Angelegenheiten des Wahlrechtes zum Abgeordnetenhaus der preußischen Monarchie gibt es nunmehr von meiner Seite nichts mehr zu sagen. Doch etwas anders fällt mein Bedürfnis aus, die Sicherheit des Reiches auf der Ebene seiner auswärtigen Politik zu beurteilen. Ich bin davon unterrichtet, dass der Herr Abgeordnete Erzberger und mit ihm die gesamte Fraktion des Zentrums einen Coup vorbereitet. Dieser soll dem Vernehmen nach darin bestehen, dem Deutschen Reichstag den Entwurf einer Resolution vorzulegen, mit der der Reichskanzler und die OHL auf womöglich unerträgliche Art und Weise unter Druck gesetzt werden könnten, offiziell die Mächte der Entente um Verhandlungen über einen Verständigungsfrieden anzugehen. War davon so ganz am Rande ihrer Erörterungen mit den Herren Haußmann, Scheidemann und eben auch Erzberger einmal die Rede?”
Die Höflichkeit im Vortrag seiner kaiserlichen Hoheit erstaunt mich. Er spricht beinahe wie ein Diplomat. Dabei will er sehr klar von mir wissen, ob auf dem Gebiete der Kriegsziele eine Lage eintreten könnte, die die Reichsleitung sehr viel eher als im Falle des Wahlrechts als einen Akt des Hochverrats bewerten dürfte. Hier muss ich ansetzen.
„Am Rande wohl, kaiserliche Hoheit, ist das eine oder andere Wort bezüglich der deutschen Kriegsziele gefallen, auch über die stets lauter werdenden Forderungen aus Petersburg, einen Frieden ohne Sieger und Besiegte ins Auge zu fassen. Noch seltener folgte eine Andeutung dazu, wie die Herren Vertreter der demokratischen Parteien gedächten, ihrer unverhohlenen Sympathie für jene Forderung in der deutschen Öffentlichkeit wirkungsvoll Gehör zu verschaffen.
Wenngleich ich wenig Handfestes aus jenen vereinzelten Anmerkungen entnehmen kann, so entwickelt sich vor meinem geistigen Auge dennoch ein klares Bild. Kein mir näher bekanntes Mitglied des Reichstages beabsichtigt, Geheimnisse aus den jeweiligen Kriegszielerörterungen mit der Reichsregierung Preis zu geben. Alle drei Teilnehmer an meinem Austausch über das Wahlrecht hingegen könnten sich sehr wohl als probates Instrument vorstellen, den Deutschen Reichstag einmal öffentlich mit dieser Frage der Verhandelbarkeit eines Verständigungsfriedens zu befassen. Ein Fall von Hochverrat droht also nicht!”
Oberst Bauer klopft sich auf den rechten Schenkel und lacht. Das nötigt den Kronprinzen und Ludendorff gleichfalls dazu, Gelassenheit zu demonstrieren. Sie schmunzeln und der Generalquartiermeister entgegnet:
„Sie haben Humor, mein lieber Doktor Stresemann!”
„In der Tat”, unterbricht ihn gleich Wilhelm, „rein formal betrachtet stellt eine Befassung des Reichstags keinen Hochverrat dar. De facto würde eine solche Initiative mit sämtlichem, dazugehörigem Presseecho unsere Feinde so massiv in die Hände spielen, dass ich vom Ergebnis her gesehen durchaus einige Züge von Hochverrat zu erkennen glaube. Das gilt um so mehr, als dass eine denkbare Friedensresolution des Reichstages ja genau diese Absicht des oder der Verfasser verfolgte. Ich meine damit, nämlich die militärische wie die zivile Reichsleitung erheblich unter Druck zu setzen durch die Mobilisierung der zunehmend kriegsmüden deutschen Öffentlichkeit.
Doch ich sitze hier nicht mit dem zukünftigen starken Mann der Nationalliberalen Fraktion, um mich in kleingeistigen Formalia zu ergehen. Stattdessen und ganz im Gegenteil möchte ich mit Ihnen erörtern, was die voraussichtlichen Effekte einer derartigen öffentlichen Debatte sein könnten, und ich möchte dabei nicht aus dem Blick verlieren, welche wahren Absichten die demokratischen Parteien dabei im Schilde führten.”
Der Kronprinz sieht mich geradezu provozierend auffordernd an. Doch ich schweige, und behalte die Ruhe. Ich bin mir fast sicher, dass er für diesen Fall schon eine eigene Interpretation der politischen Wirklichkeit im Reich parat hält. Und tatsächlich, Wilhelm lässt sich gar nicht lange bitten. Nach einem ganz schnellen Abaschen seiner Zigarre setzt er seine Rede fort.
„Es dürfte sich doch wohl so verhalten:
Herr Erzberger entwirft als Initiator einen oder gleich mehrere Texte für eine Resolution, die eine Aufforderung an die Reichsregierung enthält, anlässlich der Revolution in Russland an einen oder mehrere Gegner das Angebot zum Frieden auf der Grundlage des Status Quo ante Bellum, oder ohne Annexionen und Kontributionen zu unterbreiten. Herr Scheidemann, der dies vollinhaltlich unterstützt, kündigt das Wohlwollen, nein vermutlich gleich die Zustimmung seiner Fraktion an. Herr Haußmann wird da eher von Gewissenbissen geplagt, ob es selbst bei gleichen Zielen - dem baldigen Frieden unter beinahe jeder Bedingung - für eine liberale, bürgerliche Partei mit einer großen Tradition wie die Fortschrittliche opportun und ziemlich sei, mit Zentrum und Sozialdemokratie politische Händel zu veranstalten. Am Ende findet er es dann wohl zu verlockend, als dritte Kraft zu einer stabilen Reichstagsmehrheit beizutragen, die dieses Mal und in Zukunft immer aufs Neue in der Lage wäre, die Regierung mit öffentlichkeitswirksamen Forderungen vor sich her zu treiben. - Und so einer Dreier-Bande wollen Sie, lieber Stresemann, im Reich und in Preußen die Macht über das Budget anvertrauen?”
„Kaiserliche Hoheit, wir hatten uns doch eben noch darüber geeinigt, dass wir die Wahlrechtserörterung für heute hinten anstellen wollten.”
In den Augen des Kronprinzen blitzt eine Mischung aus Amüsement über und Anerkennung für den Gesprächspartner auf.
„Ja sicher, selbstverständlich lieber Stresemann. Da sind gerade nur die Pferde mit mir durchgegangen, so beunruhigend wie ich die Perspektive eines stabilen Bündnisses der drei so genannten demokratischen Parteien persönlich empfinde. Nur verstehen sie vielleicht jetzt, warum ich meinem verehrten Herrn Vater derzeit völlig beipflichte, dass wir der Arbeiterklasse vor Kriegsende nicht bereits den Lohn des noch nicht errungenen Sieges zugestehen sollten. Was wäre vielleicht die Folge? Dass die Herrschaften Arbeiterführer im Reichstag gleich zum Generalstreik aufforderten, um im nächsten Schritt ihre Vorstellung von Friedensverhandlungen zu erzwingen?”
Das war schlagfertig und dabei messerscharf analysiert und argumentiert. Meine Hochachtung vor dem politischen Esprit des Kronprinzen stieg bei seinen Worten merklich.
Insgeheim beschlichen mich seit Wochen ähnliche Sorgen um die unbedingte Erhaltung der Wehrkraft unserer Nation, falls die Resolution Erzbergers käme. Und allein schon wegen dieser Resolution mochte ich mir erst gar nicht weiter ausmalen, welche weiteren Folgen das gleiche Wahlrecht in Preußen zeitigen könnte. Für mich war es damals noch unglaublich und unvorstellbar mir auszumalen, dass wir auf Erwerbungen im Westen verzichten sollten. Denn es war für mich ebenso unvorstellbar, dass es eine andere Möglichkeit zur Beendigung dieses größten Krieges aller Zeiten geben könne als den vollständigen Sieg der deutschen Waffen - mit der unabdingbaren direkten Konsequenz einer starken Vorherrschaft Deutschlands über Kontinentaleuropa. Ich dachte damals selbstverständlich an das gesamte Kontinentaleuropa wohl gemerkt, so dass den Engländern nur noch ihre Insel und das Empire bliebe, nicht mehr aber das alte Spielchen der Balance of Power, um die jeweils größte Macht auf dem Kontinent in Schach zu halten. An diesem Punkt war ich nun wirklich einige preußische Landmeilen von den Herren Erzberger, Scheidemann und Haußmann entfernt. Diese hatten längst begriffen, dass sie durch unsere Gespräche niemals würden erreichen können, dass ich für die Nationalliberale Reichstagsfraktion auf Erwerbungen und den mitteleuropäischen Zollverein verzichten würde. Sie hofften indes weiterhin stark darauf, dass ich die Nationalliberalen in eine kultivierte Opposition gegen die Friedensresolution hineinführen möge. Das brachte mich plötzlich auf eine Idee für die Argumentation gegenüber den Herren von der militärischen Reichsleitung.
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