Proust über die »Suche nach der verlorenen Zeit«28
»Ich sehe schon Leser vor mir, die sich einbilden, ich schriebe hier im Vertrauen auf willkürliche und zufällige Gedankenverbindungen die Geschichte meines Lebens.«
(Brief an Paul Souday vom 10. 11. 1919 zu SJM, in: Corr. XVIII, S. 464.)
Die autobiographische Lesart, von der Proust in der oben zitierten Stelle aus seinem Brief an Paul Souday spricht, wurde zwar einerseits durch die Abschnitte Combray und Ländliche Namen: Der Name des ersten Bandes ziemlich nahegelegt, dann aber doch durch den ganz und gar unautobiographischen Abschnitt Eine Liebe von Swann ad absurdum geführt. Dennoch fühlten sich viele Kritiker eher berufen, Swann als Ungereimtheit zu empfinden denn als Widerlegung ihrer Herangehensweise (vgl. dazu das Ghéon-Zitat unten, S. 130) – die dann durch SJM neue Nahrung erhielt. Dazu schreibt Proust kurz nach dem 6. November 1920, also etwa zwei Wochen nach dem Erscheinen von WG I, offenbar etwas entnervt an Jacques Boulenger: »Ich schildere so viele verschiedene Dinge in meinem Werk, dass niemand ernstlich glauben kann, das sei alles Ich. Ohne nun gleich wie die ›Dadas‹ in Bewunderung ob meiner Seiten über die Schwerhörigkeit zu erstarren (die ich, trotz ihrer Lobgesänge, ziemlich mittelmäßig finde), sind sie dennoch zutreffend. Trotzdem bin ich keineswegs schwerhörig und wünschte nur, ich könnte ebenso gut sehen wie hören« (Corr. XIX, S. 580 f.). Immerhin, wollte man die Suche nicht als Autobiographie lesen, so legte das zeitgenössische Ambiente zumindest die Lesung als Schlüsselroman nahe.
Da Proust in den bedeutendsten Salons von Paris ein und aus ging und er sich zudem mit seinen Essays im Figaro einen Namen als Berichterstatter von Herzoginnen-Festen und Opernpremieren gemacht hatte, war es auch nicht weiter erstaunlich, dass »Tout Paris« sich auf den Weg zu Swann machte, um zu sehen, ob man wohl darin vorkomme – und beleidigt zu sein, wenn ja, und erst recht, wenn nicht. Auch gegen diese – schwerer zu widerlegende – Lesart der Suche als ein »roman à clef« hat sich Proust schon früh und immer wieder energisch verwahrt – »es gibt keine Schlüssel oder Porträts« (Brief an Madame Straus vom 3. Juni 1914, Corr. XIII, S. 231) –, doch mit mäßigem Erfolg: Noch Painter 1956 legt Wert darauf, Swann in Charles Haas, Odette in Laure Hayman, Charlus in dem Baron Doäzan, Saint-Loup in Louis d’Albufera wiederzuentdecken. Dazu Proust in dem zitierten Brief an Madame Straus: »[…] jener, den Sie Swann-Haas nennen. (Obwohl er nicht Haas ist […])«, am 19. Mai 1922 an Laure Hayman: »Sie lesen mein Buch und stellen eine Ähnlichkeit zwischen sich und Odette fest! Man möchte ja am Bücherschreiben verzweifeln« (Corr. XXI, S. 209), im April 1921 an Robert de Montesquiou: »Viele Leute glauben, Saint-Loup sei d’Albufera, an den ich dabei nie gedacht habe« (Corr. XX, S. 194), und im Mai 1921 an denselben: »Meine Person [Charlus] war schon im voraus aufgebaut und gänzlich erfunden […] sie ist größer, enthält mehr an menschlicher Vielfalt, als wenn ich sie auf eine Ähnlichkeit mit Monsieur Doäzan beschränkt hätte« (Corr. XX, S. 281). Allerdings muss man auch sagen, dass Proust das »keine« in »keine Schlüssel« an anderer Stelle ein wenig relativiert, wenn er zum Beispiel an Lucien Daudet schreibt: »Es gibt so viele [Schlüssel] für jede Tür, dass es in Wirklichkeit gar keinen dafür gibt«, oder in der Widmung von WS für Jacques de Lacretelle feststellt: »Es gibt keine Schlüssel für die Personen in diesem Buch; oder besser gesagt, es gibt acht oder zehn für jede einzelne« (Hommage à Marcel Proust, S. 191).
Hinsichtlich eventueller Modelle für die Kirche von Combray und für Vinteuils Sonate gilt mehr oder weniger das gleiche wie für die Personen der Suche – »selbst für die unbelebten Gegenstände destilliere ich etwas Allgemeines aus tausend unbewussten Reminiszenzen« (Brief an Robert de Montesquiou vom Mai 1921, Corr. XX, S. 281) –, hier erlaubt Proust allerdings doch einen kleinen Einblick in die Natur dieser Eindrücke. So schreibt er in seiner Widmung von WS für Jacques de Lacretelle: »Für die Kirche von Combray hat sich mein Gedächtnis zahlreicher Kirchen als Modelle bedient. Ich könnte Ihnen nur nicht sagen, welcher. Ich erinnere mich nicht einmal mehr, ob das Pflaster aus Saint-Pierre-sur-Dives oder aus Lisieux stammt. Manche der Fenster stammen sicherlich aus Évreux, andere aus der Saint-Chapelle und aus Pont-Audemer«, und fährt dann fort: »Was die Sonate angeht, sind meine Erinnerungen genauer. […] die kleine Phrase der Sonate […] bei der Soiree Saint-Euverte ist die charmante, aber letztlich mittelmäßige Phrase von Saint-Saëns, ein Komponist, den ich nicht mag. Es würde mich allerdings wundern, wenn ich weiter unten bei der kleinen Phrase nicht an den Karfreitagszauber gedacht hätte. Und dann an eben diesem Abend, wo Violine und Klavier zwitschern wie zwei Vögel, die einander antworten, nicht an die Sonate von Franck […], dessen Quartett in einem späteren Band in Erscheinung treten wird. Die Tremolos, die bei den Verdurins die kleine Phrase überdecken, sind mir durch das Vorspiel zum Lohengrin suggeriert worden, aber die Phrase selbst in diesem Augenblick durch etwas von Schubert. Und noch an diesem selben Abend ist sie auch ein hinreißendes Stück für Klavier von Fauré.« Wie weit man allerdings Prousts weitere Ausführungen zu den Monokeln bei Madame de Saint-Euverte wirklich als Charakterisierungen »lebloser Gegenstände« ansehen darf oder sie nicht doch schon als klare Anleihen bei lebendigen Personen ansehen muss, erscheint fraglich; auf jeden Fall aber erscheinen sie mir von eigenständigem Interesse: »Bei dem Monokel von Monsieur de Saint-Candé habe ich an das von Monsieur Bethmann gedacht (nicht der Deutsche – auch wenn der der Ursprung sein mag –, sondern an den Vater der Hottinguers), bei dem von Monsieur de Forestelle an das eines Offiziers, den Bruder eines Musikers namens d’Ollone, für das des Generals Froberville an das eines vorgeblichen Schöngeistes – ein veritabler Rohling –, den ich bei der Prinzessin von Wagram und ihrer Schwester kennengelernt habe und der sich Monsieur de Tinseau nannte. Das Monokel von Monsieur de Palancy ist das des armen und teuren Louis de Turenne, der sich wohl nicht hatte träumen lassen, dass er eines Tages mit Arthur Meyer verwandt sein würde, zumindest nach der Art zu urteilen, in der er ihn bei mir einmal behandelt hat. Turennes Monokel geht dann in Le Côté de Guermantes an Bréauté über, glaube ich.« (Hommage à Marcel Proust, S. 190 f.)
Natürlich erschafft kein Schriftsteller seine Figuren aus dem Nichts; die Komposition aus Einzelzügen, die der Realität entnommen wurden, dürfte eine allgemeingültige Vorgehensweise sein. Die Frage, die ja in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch die Gerichte beschäftigt hat, ist dabei, inwieweit ein Leihgeber erkennbar bleibt. Hierzu gibt Proust in der Suche selbst einige entscheidende Hinweise zu seiner Vorgehensweise:
Der Literat beneidet den Maler, er würde auch gern Skizzen anfertigen, Notizen machen, und ist verloren, wenn er es tut. Wenn er aber schreibt, so ist da nicht eine Geste, nicht ein Tick oder Tonfall seiner Personen, die seine Inspiration nicht aus seinem Gedächtnis bezogen hätte, kein Name einer erfundenen Person, dem er nicht sechzig Namen von Bekannten unterlegen könnte, von denen der eine für die Grimasse, der andere für das Monokel, ein dritter für den Wutanfall, ein weiterer für die gefällige Armbewegung usw. Modell gestanden hat. Und dann wird dem Schriftsteller klar, dass sein Traum, ein Maler zu sein, zwar nicht auf bewusste und willentliche Art zu verwirklichen war, dass er aber gleichwohl Wirklichkeit geworden ist und dass auch er, der Schriftsteller, sein Skizzenbuch geführt hat, freilich ohne es zu wissen.
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