Andere Gedanken könne er auch gebrauchen, sagte Knolle. Er gehe dann mal zur Wurstekammer. Den Korkenzieher habe er ja nun gefunden.
„Machen Sie man auf“, sagte Knolle, „bei mir geht sonst noch was schief.“
Sie saßen in der Laube. Der Doktor hatte die ersten Gläser eingeschenkt und Knolle hatte die Wurst in fingerdicke Stücke geteilt. Sie prosteten sich zu. Der Doktor nahm ein Wurststück, roch an ihm, nickte, kaute bedächtig und konzentriert mit leicht nach vorn geneigtem Kopf, als ob er den Geschmack, der sich in ihm ausbreitete, hören wollte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen - „und , wie is se?“, fragte Knolle - wiegte den Kopf hin und her, sah Knolle an und sagte: „Knolle, ich fürchte, da kann mein Wein nicht mithalten.“
„Na sehn se“, sagte Knolle und nahm sich auch ein Stück.
Sie genossen die Ruhe und die Luft und mit jedem Glas verbanden sich der Wein und die Wurst und ihre Gedanken inniger miteinander. Sie sahen auf den Garten vor sich mit den Kräutern, den Beerensträuchern und den wild gesäten Blumen, Sonnenblumen vor allem in voller Blüte.
„Ein idyllisches Plätzchen“, sagte der Doktor.
„Eine verwilderte Ecke“, sagte Knolle.
„Vielleicht deswegen“, sagte der Doktor.
„Alles hat eben seine drei Seiten“, sagte Knolle.
„Drei Seiten?“
„Meine, Deine und Seine. Hab ich von meinem Vater. Eigentlich logisch, oder?“
„Interessant“, sagte der Doktor. „Zwei plus eine sozusagen. Darauf sollten wir trinken.“
Er schüttete nach, hob sein Glas, sagte: „Auf Ihren Vater“, und Knolle erwiderte: „Auf die drei Seiten.“
„Logisch“, sagte der Doktor, und dass er sich lange nicht so wohl gefühlt hätte, wie an diesem Abend. In der letzten Zeit gingen ihm so viele Dinge durch den Kopf, die ihm im wahrsten Sinne des Wortes Kopfzerbrechen bereiteten. Wenn er es sich recht überlege, habe sein Vater schon recht mit seinen drei Seiten. Manchmal habe er den Eindruck, es könnten sogar noch ein paar mehr sein. Und mit jeder Seite würde es komplizierter.
„Dann kommt man ins Grübeln. Wenn man allein ist, erst recht“, sagte Knolle. „Aber Sie mit Ihrer Müllerin …“
„Mit meiner Müllerin, Knolle, genau das ist mein Problem, beziehungsweise mein Problem ist eigentlich Frau Jankowski …“
„Die Jankowski? Die ist doch über alle Berge.“
„Drum“, sagte der Doktor.
„Ach so“, sagte Knolle.
Doktor Rankwitz schlug vor, auch die letzte Flasche in Angriff zu nehmen, wie er dazu stehe.
„Positiv“, sagte Knolle.
„Freut mich“, sagte Rankwitz, „ich heiße übrigens Ludwig.“
„Absalon“, erwiderte Knolle.
„Ach herrje“, entfuhr es Rankwitz.
Knolle sei ihm auch lieber, und da es jetzt ja wohl auf Du hinausliefe, würde er vorschlagen, es bei Doktor und Knolle zu belassen, auch beim Du .
„Mit umarmen?“, fragte der Doktor.
Damit hätte er es nicht so, sagte Knolle. Ein kräftiger Schluck würde ihm auch genügen.
„Dann wollen wir das so machen“, sagte der Doktor. Aber einmal müsse er es ihm gestatten. Man träfe schließlich nicht alle Tage einen Absalon.
„Also prost Absalon und ab sofort wieder Knolle. Und vielleicht erzählst du mir irgendwann mal die Geschichte mit Absalon. Ich meine, so ohne weiteres… Na du weißt schon.“
Sie stießen die Gläser aneinander und besahen die Sterne über sich und sie fühlten, dass sich irgendetwas ereignet hatte, das ihnen guttat.
„So kann man’s aushalten“, sagte der Doktor.
„Immer nur mit sich, war auch nix“, sagte Knolle.
Darüber mache er sich auch so seine Gedanken in der letzten Zeit, sagte der Doktor, und er lande immer wieder bei Frau Jankowski und Fräulein Müller.
„Die Auswahl is ja nu nich mehr“, sagte Knolle.
„Eben“, sagte der Doktor. Und ausgerechnet jetzt entdecke er, wie sehr sie ihm fehle. „Warum passiert einem so was, Knolle. Ich glaube, sie hätte ja gesagt. Ich bin sogar ganz sicher. Nur, den richtigen Moment, Knolle, den richtigen Moment hätte ich erwischen müssen. Das Komische ist, dass ich heute weiß, wann der da war, nur damals war ich mir nicht so sicher, und dem Engländer wollte ich auch nicht in die Quere kommen.“
„Meistens kommt man sich selber in die Quere, wenn’s darum geht“, sagte Knolle.
„Stimmt auch wieder. Aber trotzdem. Außerdem hat er mich mit Treibstoff versorgt. Verstehst du, Knolle? Ohne den wäre ich aufgeschmissen gewesen.“
„Man kann eben nicht alles haben. Motorrad und die Jankowski ging eben nich.“
„Vielleicht doch, Knolle, vielleicht doch. Hauptsache, man erwischt den richtigen Moment.“
Im Augenblick sei der richtige Moment für Rotwein, sagte Knolle und hielt ihm sein Glas hin.
„Für Wein und Heidelinde“, sagte der Doktor. „Das wäre die Idealkonstellation. Von dir mal abgesehen. Nicht dass du meinst, na ja, du weißt schon.“ Außerdem stelle er fest, dass der Rotwein langsam Wirkung zeige. Er holte tief Luft. Idealkonstellation sei ihm auch schon mal einfacher vorgekommen.
„Das macht nix, Doktor. So selten wie das oder die vorkommt.“
Auch Knolle bemühte sich inzwischen um flüssige und korrekte Artikulation.
Doktor Rankwitz sah zum Himmel, ließ das goldflimmernde Wunder über ihm auf sich wirken, hätte am liebsten nicht mehr gedacht und geredet, wäre mit dem Wein und den Sternen, der fernen Liebe und dem neuen Freund in der Nähe zufrieden gewesen. Aber er musste von Heidelinde erzählen und seinen Gefühlen zu ihr, und mit jedem Satz erschien ihm seine Meerjungfrau schöner und begehrenswerter und unerreichbarer.
„So weit wie die Sterne, Knolle, und so schön. Um nicht zu sagen erhaben.
Knolle hörte die Stimme des Doktors so, wie man Musik im Hintergrund wahrnimmt, wenn sie einen begleitet auf dem Weg zu sich selbst. Seine Gedanken hatten sich unbemerkt entfernt, hatten sich weggeschlichen zu dem Waldrand über der Heuwiese und dem Fund, der ihn verwirrt hatte.
Er stand auf, sagte dem Doktor, dass er ihm was zeigen wolle. Er käme gleich wieder, und was zum Rüberlegen brächte er auch mit. Langsam würde es frisch, und ein erkälteter Arzt, Doktor, sei irgendwie komisch.
Ein wahrer Freund, dachte der Doktor, und streckte die Beine.
Knolle legte ihm eine Decke über die Schulter. Beim Umschlagen glaubte der Doktor die liebevollen Hände seiner Heidelinde zu spüren, er atmete tief und beobachtete Knolle, der so vorsichtig, wie man es mit einem kostbaren Schatz macht, in eine geöffnet hängende Tasche griff, etwas Ledernes herauszog, das früher einmal Schuhe gewesen sein konnten, und er sagte, er solle es nicht so spannend machen und die Karten endlich auf den Tisch legen.
„Das sind die Karten“, sagte Knolle.
„Aha, und wo ist der Witz, Knolle?“
„Doktor“, Knolle schluckte, „da gibt es keinen Witz.“
Doktor Rankwitz spürte, dass die weinselige Melancholie, die sich mit den letzten Gläsern über sie gelegt hatte, verschwand, wie vom Licht des Mondes aufgesogen. Plötzlich spürte er die Frische der Nacht und er sah die Sterne jetzt wie ein in Frost erstarrtes Blumenmeer.
Er zog die Decke enger und wartete.
„Die hab ich am Waldrand über der Heuwiese gefunden. Ich habe Angst, dass es Anias Schuhe sind. Ich sehe sie vor mir in den Schuhen, seitdem ich sie gefunden habe.“
„In diesem Lederknäuel Knolle? Schuhe ja, vielleicht, aber Genaueres kann man doch beim besten Willen …“
„Anias Schuhe hatten vorne an der Sohle Eisenbeschläge.“ Er griff in die Tasche, hob ein Metallstück hoch und sagte: „Wie dieses Stück hier.“
Ein paar Sekunden hielt er den Arm erhoben, ließ ihn dann fallen, legte das Eisenstück neben das Leder, stand weiter vor Doktor Rankwitz und schien auf etwas zu warten, das er nur aufrecht würde ertragen können.
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