Er hatte sich somit in seiner Weise sehr gründlich auf das Duell mit dem „schäbigen Bettelmönch“ vorbereitet und durfte danach sich wohl mit der Hoffnung schmeicheln, die für ihn als alten Professor besonders reizvolle Aufgabe, die neue Leuchte von Wittenberg zuzudecken, zu Nutz und Frommen der Kirche wie auch seines in der Person Tetzels schwer gekränkten Ordens, glänzend zu lösen.
Luther hatte sich gleich nach Empfang des kurfürstlichen Schreibens, also wohl noch am 25. September, aufgemacht, um in Begleitung des Bruders Leonhard Beier als Socius itinerarius zunächst nach Weimar zu wandern, wo seiner genauere Weisungen warten sollten. Er fand dort den Kurfürsten, der am 22. September Augsburg verlassen hatte, schon vor, predigte am 29. September vor dem Hofe in der Schlosskapelle und erhielt dann von Spalatin einen Geleitbrief, einige Empfehlungsschreiben an Augsburger Honoratioren und ganze zwanzig Gulden Reisegeld. Am 30. September wanderte er dann weiter nach Nürnberg, wo er etwa am 4. Oktober in gänzlich abgerissenem Zustand anlagte und vergeblich nach Christof Scheurl sich umsah, der ihn auf Wunsch des Kurfürsten als Rechtsbeistand nach Augsburg weiterbegleiten sollte. Seine Stimmung war anfänglich sehr gedrückt. „Ständig“, erzählt er später, „hatte ich den Scheiterhaufen vor Augen. Nun musst du sterben, sagte ich mir.“ Aber mehr als das eigene Schicksal bewegte ihn der Gedanke: „Welch eine Schande werde ich meinen lieben Eltern sein.“ Die Brüder in den Klöstern, in denen er nach Mönchsbrauch übernachtete, trösteten ihn auch oft gar übel. In Weimar meinte der Provisor der Franziskaner, Johann Kästner: „Lieber Herr Doktor, die Welschen sind gelehrte Leute, ich fürchte, Ihr werdet Euch gegen sie nicht behaupten können und dann von ihnen verbrannt werden.“ In Nürnberg rieten ihm einige der Brüder in dem Schwarzen Kloster am Frauentor sogar, schleunigst wieder umzukehren. Solcher Kleinmut weckte in ihm jedoch stets alle guten Geister des Muts und Gottvertrauens. „Auch in Augsburg“, schreibt er aus Nürnberg nach Wittenberg, „auch mitten unter seinen Feinden herrscht Christus. Möge Christus leben und Martinus sterben... Entweder vor den Menschen oder vor Gott muss man verwerflich werden.“ Ganz leicht war es ihm aber doch nicht ums Herz, als er etwa am 5. Oktober, jetzt auch von Wenzel Link begleitet und mit Bruder Wenzels neuer Kutte köstlich angetan, seinen Stab weitersetzte. Am letzten Wandertage ward er noch von einem heftigen Magenleiden befallen, so dass er nicht mehr gehen, sondern für die letzten drei Meilen einen Wagen mieten musste. So langte er am 7. Oktober im Karmeliterhof St. Anna zu Augsburg, dessen Prior Johann Frosch ihm von Wittenberg her bekannt war, körperlich und seelisch völlig erschöpft an. Gleich nach seiner Ankunft ließ er sich durch Link im Fuggerhause bei dem Kardinal melden. Aber die sächsischen Räte Rühel und Philipp von Feilitzsch, die seinetwegen in Augsburg geblieben waren, verboten ihm, sich auf der Straße zu zeigen, ehe sie ihm von dem Kaiser und dem Rat der Stadt Geleitsbriefe verschafft hätten. Die kaiserlichen Räte ließen sich in der Tat hierzu bereitfinden, als Cajetan erklärte, sie sollten tun, was sie wollten. Inzwischen hatte das „schäbige Brüderlein“ über Mangel an Besuch nicht zu klagen. Alle Welt Wollte den neuen Herostrat sehen, der einen so großen Brand angezündet hatte. Der berühmteste Mann der Stadt, Konrad Peutinger, lud ihn sogar, um seine Neugierde zu stillen, einmal zum Essen ein. Cajetan hielt sich natürlich zurück. Aber einer der vornehmen Italiener seines Gefolges, Urban de Serralonga, ließ sich am 9. Oktober bei dem Ketzer im Karmeliterhof melden und versuchte, ihn in „echt italienischem Stile“ zu bearbeiten. Es werde ihm, meinte er, doch gewiss ein leichtes sein, die sechs Buchstaben auszusprechen: Revoco (ich Widerrufe)! Als Luther ihm entgegenhielt: „Ich muss doch unter allen Umständen meine Behauptungen rechtfertigen“, fuhr er fort: „Ei, ei, wollt Ihr ein Ringelrennen anstellen? Ihr habt die Ablassfrage viel zu ernst genommen. Warum soll man nicht Unwahres lehren, wenn die Unwahrheit nur tüchtig Geld einbringt? Über die Gewalt des Papstes darf man freilich nicht disputieren. Die ist so groß, dass der Papst heute geltende Glaubenslehren durch einen bloßen Wink außer Kraft setzen könnte. Was kümmert den Papst aber Deutschland?“ Zuletzt bemerkte er: „Meint Ihr, dass der Kurfürst Euretwegen zu den Waffen greifen würde?“ Luther: „Keineswegs.“ Urban: „Aber wo wollt Ihr dann bleiben?“ Luther: „Sub caelo“ (unter dem Himmel). Darauf hielt es Messer Urban doch für angezeigt, sich schleunigst zu entfernen.
„Die Albernheit dieses Mittelmannes hat mein Vertrauen nicht wenig gestärkt“, schreibt Luther am Tage danach an Spalatin. „Grüße die Wittenberger Freunde und sage ihnen, sie sollen, ob ich nun zurückkehre oder nicht, guten Mutes sein. Denn ich habe schon beschlossen, an ein künftiges allgemeines Konzil zu appellieren, wenn der Legat nicht mit Gründen, sondern mit Gewalt gegen mich vorgehen sollte.“ Am 11.0ktober richtete er dann eine Art Abschiedsbrief an den fast zärtlich von ihm geliebten jungen Philipp Melanchthon, der kurz zuvor in Wittenberg sein Amt angetreten hatte: „Sei ein Mann und lehre die Studenten den rechten Weg. Ich gehe jetzt, mich für Euch und sie, wenn Gott es so will, als Opfer schlachten zu lassen. Aber ich will lieber sterben und selbst, was mir am schwersten fällt, den beglückenden Verkehr mit Euch in alle Ewigkeit entbehren als widerrufen.“ Am selben Tage traf der kaiserliche Geleitbrief ein. So konnte er denn am Morgen des 12.Oktober endlich, von seinen Freunden Link und Frosch und drei anderen Mönchen begleitet, den schweren Weg nach dem Fuggerhause antreten.
* * *
Jakob Fugger der Reiche ließ von 1512 bis 1515 an der damals wichtigen Handelsstraße Via Claudia (der heutigen Maximilianstraße) neben dem damaligen Weinmarkt zwei nebeneinander liegende Häuser, eine Stadtresidenz und ein Lagerhaus, errichten. Er entwarf den Komplex selbst nach Plänen, die er auf seiner Italien-Reise notiert hatte. Der Profanbau ist das erste Bauwerk nördlich der Alpen, das im Stil der italienischen Renaissance errichtet wurde. Weitere angrenzende Häuser wurden ab 1517 hinzuerworben und in den Komplex dieses Stadtpalastes integriert.
Die äußere Fassade, eine der längsten in der Straße, zeugte vom Reichtum der Fugger, da damals die Gebäudesteuer nach der Länge der Frontfassade berechnet wurde.
https://de.wikipedia.org/wiki/Fuggerh%C3%A4user
Fuggerhaus – Adlertor
Von Emkaer - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9829219
* * *
„Man hatte mir beigebracht“, erzählt er später, „wie ich mich gegen den Kardinal“, der von einem großen Schwarm neugieriger Italiener umgeben war, „benehmen sollte. Zuerst warf ich mich vor ihm aufs Angesicht nieder. Darauf, als er mich aufstehen hieß, richtete ich mich nur bis zu den Knien auf. Erst auf einen erneuten Wink stand ich ganz auf. Ich entschuldigte mich alsdann, dass ich erst den Geleitsbrief abgewartet hatte, und versicherte, dass ich von ihm nur die Wahrheit hören wolle.“ Cajetan erwiderte darauf einige freundliche und verbindliche Worte, wie sie dem gut erzogenen Italiener jederzeit zu Gebote stehen.
Luther in Augsburg vor Cajetan
Aber dann erklärte er kurz: Dreierlei habe er im Auftrage Seiner Heiligkeit von ihm zu fordern: „1. Bereue Deine Irrtümer und widerrufe sie, 2. versprich, sie nicht mehr zu lehren, 3. enthalte dich aller Umtriebe, durch die der Friede der Kirche gestört werden könnte.“ Luther bat darauf, ihm seine Irrtümer anzugeben. Der Kardinal wies ihn zunächst auf die 58. der 95 Thesen hin, in der er behauptet hatte: Der Schatz der Kirche ist nicht identisch mit den Verdiensten Christi und der Heiligen. Diese Ansicht werde zur Genüge, führte Cajetan dann aus, durch die Dekretale Unigenitus widerlegt. Alsdann hob er aus den Resolutionen zur 7. These den Satz heraus: Nicht das Sakrament, sondern der. Glaube rechtfertigt. Diese Behauptung ist, meinte er, neu und falsch. Als Luther versetzte, in diesem Punkte könne er nicht nachgeben, herrschte er ihn an: „Das musst du, ob du willst oder nicht, noch heute widerrufen. Sonst werde ich um dieser einen Stelle willen alles, was du sonst sagst, verdammen!“ Die anwesenden Italiener begleiteten diese Worte „nach ihrer Art“ mit höhnischem Gelächter. Zu dem ersten Punkte erklärte Luther sodann, die Delcretale sei ihm keine Autorität, weil sie die Heilige Schrift missbrauche und deren Worte verdrehe, außerdem auch nur die Ansichten des Thomas von Aquino wiederhole. „Ich gebe daher den Bibelstellen, die ich in den Thesen zitiere, unbedingt den Vorzug.“ Das ging Cajetan wider die Natur. Obwohl er nicht mit dem „Brüderlein“ disputieren sollte und wollte, konnte er sich doch nicht enthalten, ihn zu belehren: Der Papst steht über dem Konzil und der Heiligen Schrift. Als Beweis hierfür zitierte er die Verdammung des Baseler Konzils durch Nikolaus V. „Du bist auch ein Gersonist“, fuhr er fort. „Alle Anhänger Gersons sind ebenso verdammt wie Gerson selbst.“ Als Luther ihn daraufhin an die erst jüngst getätigte Appellation der Universität Paris an ein künftiges Konzil zu erinnern wagte, grollte er: „Dafür werden die Pariser noch büßen müssen!“ Danach kam es, wie Luther meint, noch zu einem konfusen Hin- und Herreden über die Gnade Gottes. Nichts von dem, was Luther vorbrachte, ließ Cajetan gelten. Hielt er ihm eine Bibelstelle vor, so lachte er wohl gar hart auf. Dazwischen herrschte er ihn immer wieder an: „Widerrufe, erkenne deinen Irrtum. Das und nichts anderes ist der Wille des Papstes!“ Da bei diesem Hin- und Herreden doch nichts herauskam, bat Luther schließlich um Bedenkzeit und zog mit seinen Freunden wieder von dannen. Dass Cajetan sich streng an die Zusagen gehalten habe, die er Friedrich gegeben hatte, kann man danach kaum behaupten. Er hatte zwar sehr freundlich-väterlich angefangen, aber dann gar bald von seinem Temperament sich hinreißen lassen. Diesen Eindruck müssen auch Wenzel Link und Johann Frosch gehabt haben, denn sonst hätten weder die sächsischen Räte noch der überaus ängstliche Dr. Peutinger, noch auch der zu Luthers Freude eben erst in St. Anna eingetroffene, äußerst vorsichtige Dr. Staupitz sich keinesfalls bereitfinden lassen, ihn am Morgen des 13. Oktober zu der zweiten Audienz ins Fuggerhaus zu begleiten. Cajetan sah sich lächelnd diesen stattlichen Aufzug an. Lächelnd nahm er auch die förmliche Erklärung (Protestatio) entgegen, die Luther darauf in Gegenwart dieser Zeugen vorlas: solange er noch nicht überführt und widerlegt sei, könne er nicht zu einem Widerruf gezwungen werden. Er sei sich nicht bewusst, etwas gegen die Bibel, die Kirchenväter, die Dekretalen und die Vernunft gelehrt zu haben. Da er aber, wie jeder Mensch, irren könne, so unterwerfe er sich dem Urteil der legitimen Kirche und erbiete sich, sei’s in Augsburg, sei’s anderwärts, öffentlich über seine Sätze zu disputieren. Sei das Cajetan nicht angenehm, so sei er bereit, auf seine in der ersten Audienz geäußerten Einwände schriftlich zu antworten und die Entscheidung über seine Lehren dann den Universitäten Basel, Freiburg, Löwen und, falls das noch nicht genüge, auch noch der Universität Paris zu überlassen. Danach begann der Kardinal wie ein alter Professor, der nicht von seinem Lieblingsthema loskommen kann, wieder über die Dekretale Unigenitus zu sprechen. Aber Luther erwiderte ihm, er wolle ihm schriftlich antworten, mit Worten hätte er schon gestern genug mit ihm gestritten. Diese Bemerkung nahm Cajetan sehr übel auf. „Mein Sohn“, sagte er, „ich habe nicht mit dir gestritten und will auch jetzt keineswegs mit dir streiten. Nur aus Rücksicht auf Seine Durchlaucht den Kurfürsten Friedrich will ich dich väterlich und gütig verhören und dich wieder mit Seiner Heiligkeit zu versöhnen suchen.“ Als darauf jedoch auch Staupitz ihn ersuchte, Luther eine schriftliche Antwort zu gestatten, gewährte er ihm diese Bitte endlich in Gnaden, ja er entließ ihn mit den Worten: „Ich werde dich sehr gerne hören und dann alles wie ein Vater, nicht wie ein Richter erledigen.“
Читать дальше