AnnaLenas Züge glätteten sich. „Die ist einfach hässlich. Du musst sie dir anschauen. Papi, die ist so hässlich, Petra will ein Bild von ihr ins Internet stellen.“
„Also, das solltet ihr auf keinen Fall tun.“ Knoops Stimme nahm einen harten Klang an. Dann atmete er tief durch. Emotionen waren im Moment wenig hilfreich. „Sag deiner Petra, sie soll keine Dummheiten machen. Damit macht sie sich strafbar. Und es gibt jede Menge Ärger. Aber kommen wir auf dein Problem zurück. Nun, es ist mir im Moment nicht möglich deine Rosa anzuschauen. Das siehst du doch ein. Du musst sie mir also beschreiben.“ Knoop biss ein Stück von seiner Brotscheibe ab und hoffte, er könne den Bissen in Ruhe zerkauen.
AnnaLena zögerte. Lippe und Zähne arbeiteten sichtbar miteinander. „Nun, die...“, sie schluckte, „Rosa hat einen Kopf wie ein Totenkopf.“ Ihre Augen leuchteten. „Bah, voll ätzend.“
„Sie hat also kaum Muskeln in Gesicht.“ Mikael hob abwehrend die Hände, als sich das Gesicht seiner Tochter erneut verfinsterte. „Ich frage nur, um dich besser zu verstehen.“
Das Kindergesicht nahm einem wohlwollenden Zug an. „Die hat am ganzen Körper gar keine Muskeln. Du musst mal sehen, wie die Kleidungsstücke an ihrem Körper baumeln. Einfach ätzend, sag ich dir ja.“
„Kann sie eine Erbkrankheit haben?“ Knoop versuchte einen behutsamen Widerspruch.
„Erbkrankheit?“ AnnaLenas Stimme klang so laut, als begrüße sie jemanden auf der anderen Straßenseite.
„Ich weiß es ja auch nicht, was Rosa fehlt. Aber was du mir gesagt hast, lässt dies vermuten. Es ist eine Übertragung von...“ Knoop zögerte, ob seine Tochter den Weg dieser Erklärung, begreifen könnte. „Pass auf, ich erkläre es dir so. Alles, was du hast, wie du aussiehst, dass hast du von Mama oder von mir. Die Augen hast du von Mutti, den Mund von mir. Wenn ich überlege, dann hast du von Oma Mutti die Nase und das Kinn ist von deinem Großvater, aber den kennst du ja nicht.“ Knoop hob abwehrend beide Hände, damit seine Zuhörerin nicht abschweifen konnte. „Das hast du von uns geerbt. Das sind die Erbanlagen. Nun werden aber nicht nur tolle Sachen wie deine blauen Augen oder deine lockigen Haare von den Eltern an die Kinder vererbt. Auch Krankheiten werden so übertragen, also vererbt. Du kannst dich doch an die Familie Bergmann erinnern, die haben doch auf dem Eckgrundstück gewohnt.“
AnnaLena nickte.
„Erinnerst du dich an deren Tochter? Ich glaube Kati hat die geheißen...“
„Kerstin“, verbesserte ihn das Mädchen.
„Richtig! Kerstin. Kerstin hatte nicht so Augen, wie du und ich. Sie waren mehr geschlitzt. Man bezeichnet dies als Mongolismus. Das ist...“
„Kerstin war aber in Ordnung. Ich durfte sogar mit ihrem Einrad fahren. Nur sprach sie ein wenig schleppend.“
„Siehst du, auch Menschen mit Erbkrankheiten können tolle Menschen sein.“ Knoop schob den Rest der Brotschnitte in den Mund und trank dazu einen Schluck Limonade.
„Aber die ... die Rosi, die ist so ... die sieht so furchtbar aus. Ich muss mich immer vor Eckel schütteln.“ AnnaLenas Gesicht verzog sich, so als müsste sie den Saft einer ganzen Zitrone schlucken.
„Du musst auf was Schönes von ihr schauen. Ich kenne sie nun nicht. Aber hat sie nichts, was dir gefällt?“
Seine Tochter grübelte. Für Mikael Zeit genug, sich über die Käseschnitte herzumachen. „Doch! Sie hat wunderschöne schwarze Haare. Glatt, lang und die glänzen immer.“
„Siehst du. Das ist doch schon ein Anfang. Beobachte sie, du wirst weitere Belege finden. Vielleicht hat sie eine tolle Stimme oder sie ist ehrlich, man kann sich auf sie verlassen. Sie tratscht nicht über dich. Und, und, und. Du wirst sehen, auch hässliche Menschen können liebenswert sein. Weißt du, was wirklich hässlich ist?“
AnnaLena schaute ihn mit fragenden Augen an.
„Nicht Rose ist hässlich, sondern das Verhalten von dir, Petra und wem sonst auch immer ist hässlich und gemein. Wie ihr mit Rosa umgeht, das ist hässlich.“ Er küsste seine Tochter auf die Stirn. Dann ging er ins Wohnzimmer und dort zum Fernseher, um ihn abzuschalten. In dieser Phase durfte er Christel nicht wecken.
Im Polizeipräsidium hatten sie alle die Arbeiten gemacht, die kurzfristig zu erledigen waren: Berichte schreiben, Informationen beschaffen, Notizen verfassen oder Aufträge zu erteilen. Kurz: Es ging um die Dokumentation der vorliegenden Ergebnisse. Van Gelderen, der Leiter des KK 1, hatte auf 9 Uhr eine Besprechung angesetzt. Der Besprechungsraum war bis auf den letzten Mann und Frau gefüllt. Van Gelderen machte ein paar allgemeine Bemerkungen, ehe er zu dem konkreten Grund dieses Treffens kam. Mikael war sauer. Die Kollegin Höfftner hatte sich sofort nach den einleitenden Worten vom Chef aufgeregt und beschwert. Bevor es um die Verteilung von Aufgaben innerhalb der MK ging, sollte die Frage der MK-Leitung geklärt sein. Alle schauten sich gegenseitig an. Was war denn da im Busch? Der Chef hörte sich die Beschwerde mit Ruhe an. Dann versuchte er aber mit salbungsvollen Worten die Wogen zu glätten.
Mikael wusste, wie wenig sein Chef eigentlich von Frauen in diesem Beruf hielt. Er war einmal Zeuge eines Gesprächs gewesen, in dem van Gelderen seinen Standpunkt geäußert hatte. Das konnte interessant werden, denn er wusste, dass Albino, wie er respektlos von einigen seiner Untergebenen genannt wurde, auch von Knoop nichts hielt. Anfangs hatte Mikael versucht, ihm nach dem Mund zu reden. Schnell hatte er aber gemerkt, dass zwischen ihnen die Chemie nicht stimmte. Es waren weniger dienstliche Gründe als vielmehr menschliche Befindlichkeiten, die dem im Wege standen. So hatte er sich in die Rolle eines Rebellen begeben, der machte, was er für richtig hielt, egal ob es dem Chef passte oder nicht.
Schnell kam van Gelderen zu einer salomonischen Entscheidung, wie er es verstand. Er erklärte die Ermittlungen zu einem minderschweren Fall, den er zu verantworten gedachte. Unter ihm sollten beide, also Höfftner und Knoop, das Zusammenarbeiten üben. Dabei wussten alle, dass die Welt des Chefs zweigeteilt war: Anhänger und Ignoranten. Wer van Gelderen nach dem Mund redete, genoss alle Vorzüge in diesem Kommissariat. Wen der Chef nicht leiden konnte, der fand selten Unterstützung. Van Gelderens Vorzüge lagen in der Beurteilung von Sachverhalten, die Außenwirkung hatten. Überall wofür sich die Presse interessieren könnte, da übernahm er die Leitung. Schien das Presseinteresse gering, beauftragte er Untergebene. Dass er in diesem Fall die Leitung beanspruchte, war der Not gehorchend. Er wollte sich nicht zwischen einer Frau und einem unliebsamen Kollegen festlegen. Das Interesse der Presse an einem Mord an einer Dunkelhäutigen schätzte er als gering ein. In dieser Außenwirkung verstand van Gelderen es vorzüglich, sein Kommissariat und damit die Duisburger Polizei immer gut aussehen zu lassen. Es war also offensichtlich, im Mordfall Nomfunda Mafalele war kein Staat zu machen. Knoop störte das nicht. Der Täter interessierte ihn - wie er dachte und vorging und wie man ihm das Handwerk legen konnte. Bei dem Gedanken an den Sieg der Gerechtigkeit oder an den Versuch, das Böse dieser Welt minimieren zu helfen, zog ein süffisantes Lächeln über seine Züge. Sich also nicht festlegen, den Schwarzen Peter bei seinen Untergebenen lassen, damit folgte van Gelderen seinem Motto von Teilen und Herrschen. Für Mikael war eine solche Strategie vorteilhaft. Sie bot ihm maximalen Bewegungsspielraum. Allerdings durfte man dann keine Fehler machen.
Heribert van Gelderen war eine männliche Erscheinung. Immer trug er Anzüge, immer gehörte dazu eine Krawatte, passend zum Oberhemd. Seine kurzgeschnittenen Haare waren meist weiß, weshalb seine Spötter ihn auch als 'Albino' verlästerten. Seine lange, schlanke Gestalt überragte fast alle in seiner Abteilung. Sein muskelloses Skelett war sein markantestes Merkmal. Mit sonorer Stimme verteilte er den Informationstransport.
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