»Kannst du so viele machen, daß ich morgen noch kalte zum Frühstück habe?«
»Klar.«
»Kalte Spaghetti schmecken toll zum Frühstück.«
»Du bist schon ein verrückter Bursche.« Sie fuhr vors Haus, hielt neben der rückwärtigen Veranda und half ihm aus dem Wagen. »Laß die Krücken liegen«, schrie sie gegen den heulenden Wind an. »Halt dich an mir fest.« Die Krücken waren auf dem schneebedeckten Boden sowieso nicht von großem Nutzen. »Ich bring’ sie dir rein, sobald ich den Wagen in der Garage habe.«
Wenn der schwere Gips um sein rechtes Bein nicht von den Zehen bis übers Knie gereicht hätte, wäre sie vielleicht imstande gewesen, ihn zu tragen. Statt dessen hielt er sich an ihr fest und hüpfte auf seinem gesunden Bein.
Sie hatte das Licht in der Küche für Doofus, ihren vier Jahre alten schwarzen Labrador, angelassen. Hinter den eisblumenübersäten Fenstern schimmerte bernsteinfarbenes Licht und warf gedämpften Schein auf die Veranda.
Tommy lehnte sich gegen die Hauswand, während Meg die Tür aufschloß. Als sie die Küche betrat, kam ihr der Hund nicht wie gewöhnlich mit aufgeregt wedelndem Schwanz entgegengelaufen. Statt dessen kam er mit eingekniffenem Schwanz angeschlichen; er hielt den Kopf gesenkt und beäugte sie mit argwöhnischem Blick. Sie schloß die Tür hinter sich und half Tommy auf einen Stuhl am Küchentisch. Dann zog sie ihre Boots aus und stellte sie in die Ecke runter der Tür.
Doofus zitterte, als ob ihn fröstelte, obwohl es in der Küche warm war, der Ölofen bullerte. Der Hund gab ein seltsames, winselndes Geräusch von sich.
»Was ist los, Doofus?« fragte sie. »Was hast du verbrochen? Eine Lampe umgeworfen? Hm? Ein Sofakissen gefressen?«
»He, er ist ein braver Köter«, sagte Tommy. »Wenn er ‘ne Lampe umwirft, zahlt er für den Schaden. Nicht wahr, Doofus?«
Der Hund wedelte mit dem Schwanz, wenn auch nur zögernd. Er sah nervös zu Meg hinüber, dann zurück in Richtung des Eßzimmers - als würde dort jemand in den Schatten lauern, jemand, vor dem er zuviel Angst hatte, um zu bellen.
Und dann verstand Meg plötzlich.
Ben Parnell entfernte sich von der Straßensperre und lenkte seinen Chevy Blazer Richtung Labor Nummer drei, das im Herz des Biolomech-Komplexes lag. Schnee schmolz auf seiner Pudelmütze und rann ihm in den Kragen der schaffellverbrämten Lederjacke.
Überall suchten Leute im schwefelgelben Schein der Strahler das Gelände ab. Wie sie da mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Köpfen durch die Nacht trotteten, erinnerten sie eher an Dämonen als an menschliche Wesen.
In gewisser Weise war er froh über die plötzliche Krise. Andernfalls hätte er zu Hause herumgesessen und so getan, als würde er lesen oder fernsehen, obwohl ihm nichts anderes im Kopf herumging als Melissa, sein vielgeliebtes Kind, das er an den Krebs verloren hatte. Und wenn seine Gedanken nicht um Melissa gekreist wären, hätte er statt dessen über Leah gegrübelt, seine Frau, die er ebenfalls verloren hatte.
Weswegen? Er verstand immer noch nicht ganz, warum ihre Ehe nach dem Unglück mit Melissa zerbrochen war. Soweit er es begreifen konnte, hatte es im Grunde nichts Trennendes zwischen ihnen gegeben als Leahs Trauer, die mehr und mehr von ihr Besitz ergriffen, schwerer und schwerer auf ihr gelastet hatte, bis sie nicht länger fähig gewesen war, überhaupt noch ein anderes Gefühl aufzubringen, geschweige denn Liebe für ihn. Möglich, daß ihre Trennung schon länger in der Luft gelegen hatte und durch Melissas Tod nur beschleunigt worden war; trotzdem hatte er Leah geliebt. Und er liebte sie immer noch, wenn auch nicht mit der einstigen Leidenschaft, sondern eher auf die melancholische Art und Weise, wie man seinen Traum vom Glück träumt. Selbst wenn man weiß, daß er niemals wieder Wirklichkeit werden kann. Genau das war es, was Leah während des vergangenen Jahres für ihn geworden war: keine Erinnerung, ob nun schmerzhaft oder glücklich, sondern ein Traum - der Traum von etwas, das es nie geben würde.
Er parkte den Wagen vor dem Labor, einem fensterlosen Flachbau, der wie ein Bunker aussah. Die Außentür schloß sich mit einem Zischen hinter ihm, und er zog die Handschuhe aus, während er vor der Innentür und der darüber angebrachten Kamera stand. Die Elektronik gab eine in die Wand eingelassene, grün beleuchtete Glasfläche frei, auf der die Umrisse einer Hand zu sehen waren. Ben legte seine Hand auf die Fläche und ließ seine Fingerabdrücke vom Computer überprüfen. Sekunden später, nachdem seine Identität bestätigt worden war, öffnete sich die Innentür zum Hauptflur, der zu den Büros und Labors führte.
Minuten vorher war Dr. John Acuff, der Leiter des Blackberry-Projekts, auf dem Gelände eingetroffen. Ben entdeckte Acuff in einem Korridor des Ostflügels, wo er mit ernster Miene auf drei am Projekt beteiligte Forscher einredete.
Als Ben auf ihn zuging, bemerkte er, daß Acuff der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Der Wissenschaftler - ein hagerer Mann mit schütterem Haar und einem Pfeffer-und-Salz-Bart -war weder ein zerstreuter Professor noch ein kalter Analytiker, entsprach in keiner Weise den üblichen Stereotypen, die man Wissenschaftlern gern zuordnete, besaß tatsächlich eine ganze Menge Sinn für Humor; gewöhnlich waren in seinen Augenwinkeln lebensbejahende, sympathische Lachfältchen zu sehen. Wie auch immer, heute nacht schien ihm das Lächeln restlos vergangen zu sein.
»Ben! Haben Sie unsere Ratten gefunden?«
»Nicht die geringste Spur. Ich brauche dringend ein paar Informationen. Haben Sie irgendeine Ahnung, wohin sie verschwunden sein könnten?«
Acuff griff sich mit einer Hand an die Stirn, als wollte er prüfen, ob er Fieber hätte. »Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, Ben. Wenn wir sie nicht finden ... wird es schreckliche Folgen haben.«
Der Hund knurrte zaghaft die unsichtbare Gefahr an, die sich in der Dunkelheit hinter dem Durchgang zum Eßzimmer verbarg, aber schließlich ging das Knurren wieder in ein leises Winseln über.
Zögernd, aber unbeirrt bewegte sich Meg in Richtung des Eßzimmers, tastete an der Wand nach dem Schalter und machte Licht.
Die acht Stühle standen ordentlich um den Queen-Anne-Tisch; matt schimmerten die Teller hinter dem facettierten Glas des großen Geschirrschranks; alles befand sich an seinem Platz. Sie hatte erwartet, einen Einbrecher vorzufinden.
Doofus hielt sich zitternd hinter ihr in der Küche. Er war kein Hund, der sich leicht bange machen ließ, aber irgend etwas mußte ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt haben.
»Mam?«
»Bleib da«, sagte sie.
»Irgendwas nicht in Ordnung?«
Nacheinander betrat Meg die anderen Räume, machte Licht und sah sich um. Sie sah in die Schränke und hinter die größeren Möbelstücke. Oben hatte sie eine Waffe, die sie aber nicht holen wollte, bevor sie nicht sicher sein konnte, daß Tommy allein im Erdgeschoß war.
Megs Sorge um Tommys Gesundheit und Sicherheit war nach Jims Tod größer und größer geworden, nahm zuweilen übertriebene Formen an. Sie wußte, daß es so war, aber sie konnte nichts dagegen machen. Sobald er einen Schnupfen hatte, war sie sicher, daß daraus eine Lungenentzündung würde. Wenn er sich schnitt, schlug ihr das Herz bis zum Hals, als könnte ihn ein Teelöffel Blut gleich das Leben kosten. Als er beim Klettern vom Baum gefallen war und sich das Bein gebrochen hatte, war sie beim Anblick seines verdrehten Gelenks fast ohnmächtig geworden. Sie liebte Tommy mit jeder Faser ihres Herzens, und der Verlust ihres Sohnes hätte bedeutet, auch noch das letzte zu verlieren, was von Jims Leben geblieben war. Meg Lassiter hatte gelernt, den Tod der ihr am nächsten stehenden Menschen mehr zu fürchten als ihren eigenen.
Daß Tommy schwer erkranken oder bei einem Unfall umkommen würde, war immer eine ihrer größten Ängste gewesen - aber obwohl sie sich aus Gründen des Selbstschutzes eine Waffe gekauft hatte, war sie nie auf die Idee gekommen, daß ihr Sohn Opfer einer verbrecherischen Absicht werden könnte. Verbrecherische Absicht: das klang melodramatisch, lächerlich. Schließlich wohnten sie auf dem Land, wo von Gewalt, wie sie in New York zum alltäglichen Leben gehört hatte, nichts zu spüren war.
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