Mommo und seine Tochter Chrodelind wurden auf einem kleinen Friedhof am Waldrand begraben. Dabei geschah nichts Auffälliges, das mitteilenswert wäre. Unsere und Hrotberts Leute standen schwer bewaffnet dabei und warfen einschüchternde Blicke um sich.
Frau Begga gab sich nicht mehr die Mühe, Trauer zu heucheln. Sie blickte nicht einmal hin, als die Toten in ihre Särge gelegt wurden. Das Kreuz mit dem Opal wurde der Zentgrafentochter mit ins Grab gegeben. Es dürfte inzwischen gestohlen sein.
Bei der Rückkehr zum Salhof fragte mich Hrotbert, wie lange die Untersuchung noch dauern werde. Wir einigten uns darauf, am dritten Tag die Verhandlung gegen Siegram zu Ende zu führen. Sehr eilig hatten wir es ja nun nicht mehr. An eine Fortsetzung der Reise war erst zu denken, wenn Odo wieder zu Pferde sitzen konnte. Der Graf lud uns ein, nach Abschluss der hiesigen Angelegenheit noch ein paar Tage auf seinem Anwesen zu verbringen. Er wollte sogar für Odo eine Sänfte schicken, die ihm einmal ein reisender Erzbischof, nachdem er in seinem Hause gestorben war, hinterlassen hatte. Als ich das Odo erzählte, lachte er und sagte: „Gut, einverstanden. Ich setze mich in die Sänfte. Aber schickt mir vorher den Papst, damit er mich zum Erzbischof weiht!“
Eine andere Frage, die ich mit Hrotbert erörterte, betraf die Anklageerhebung im Fall des Mordes an Mommo. Hauk hatte Frau Begga bezichtigt, doch er war tot. Andere Zeugen würden nicht aufzutreiben sein und wie Begga sich verteidigen würde, wusste ich schon. Dennoch war Hrotbert entschlossen, sie vor sein Grafschaftsgericht zu bringen. Notfalls wollte er selbst als Kläger auftreten und ein Gottesurteil entscheiden lassen. (Noch hatte ich nicht jenes oben erwähnte Mittel gefunden.) Er ordnete an, dass Frau Begga zunächst bis zu der Verhandlung gegen Siegram den Salhof nicht verlassen durfte. Mommos Schatzkammer und jede Truhe darin wurden verschlossen, der Graf nahm selbst alle Schlüssel an sich. Als Wache ließ er einige seiner Leute zurück, die sich im Saal einquartierten.
Irgendwie schaffte es Odo, auf Witzlaw gestützt, den Weg durch das Wäldchen zurückzulegen. Unter der Obhut der ihm nun grenzenlos ergebenen Petrissa ließ er sich in der Schänke nieder. Er richtete sich in einer Ecke ein und die Schankwirtin behandelte ihn mit Salben, die sie selbst nach Rezepten aus ihrer slawischen Heimat bereitete. Zum Glück war Hauks Pfeil nur ins Fleisch eingedrungen und hatte keinen Knochen beschädigt, Odo überstand ein leichtes Wundfieber und war bald auf dem Weg zur Genesung. Er machte sich schon nach ein paar Tagen wieder nützlich, indem er fortsetzte, was ich begonnen hatte, nämlich Mommos Rechtsbrüche aufzulisten. Hrotbert und der neue Zentgraf werden noch lange zu tun haben, wenn sie auch nur für die schlimmsten Übergriffe Genugtuung geben wollen.
Da Odo nicht schriftkundig ist, hilft ihm Aimo, der das Lesen und Schreiben von seinem Herrn Siegram erlernt hat. Der hübsche, aufgeweckte Siebzehnjährige ist äußerst diensteifrig. Er möchte am liebsten bei uns bleiben und Odo stellt Überlegungen an, ob wir ihn nicht als Helfer von Rouhfaz mitnehmen sollten. Ich gab zu bedenken, dass wir ihn ja in diesem Falle dem Sänger abkaufen müssten, vorausgesetzt dieser würde freigesprochen, dass aber ein solcher Kauf unser schmales Reiseguthaben schwer belasten würde. Da grinste Odo genauso wie ein paar Tage zuvor, als ich ihn nach den Umständen der Ergreifung Siegrams gefragt hatte.
„Sei unbesorgt“, sagte er, „mit Goldkehlchen werden wir schon einig.“
So komme ich nun zu Siegram, dem Skop. Ich hatte ihn ja bei den Gefolgsleuten des Grafen vor dem Tor des Salhofs zurückgelassen.
Damit sich die Ereignisse der Nacht nicht wiederholten, nahm ich ihn mit ins Castell hinüber, wo ich selbst bis zur Abreise bleiben wollte. Siegram richtete sich in dem Saal ein, den wir nach dem Abzug der Vasallen des Grafen wieder für uns allein hatten. Da sich Fulk und seine Männer stets in der Nähe aufhielten, war für eine unauffällige Bewachung gesorgt. Der Sänger machte allerdings keinen Versuch zu fliehen. Den Rest des Tages verschlief er und am Abend setzte er sich mit seiner Harfe auf den Baumstamm vor dem Saalhaus und sang etwas von der zerstörten heidnischen Heldenstadt Troja. Dazu regte ihn wohl der ausgebrannte alte Wachturm an, aus dem immer noch Rauch aufstieg.
Ich hielt währenddessen in dem Kirchlein meine Vesperandacht, und dabei kam mir die Idee zu dem, was ich „das Mittel“ genannt hatte. Der Herr möge mir verzeihen, dass meine Gedanken abschweiften und plötzlich Sprünge machten. Siegram sang draußen leise, mit Wehmut in der Stimme, unterbrach sich immer wieder und setzte neu an, und während einer solchen Pause war mir, als hörte ich noch einmal das Kyrie, und ich sah wieder die Frau vor mir, die kaum ihre Erregung beherrschen konnte. Und ich dachte auch an unsere Ankunft im Saalhaus des Herrenhofs, erinnerte mich des ersten Eindrucks, den wir von ihr gewonnen hatten. Warum war ich darauf nicht gleich gekommen? Hatte ich nicht schon früher begriffen, dass Siegrams Gesang der Schlüssel zu dieser Tür war?
Ich beendete meine Andacht und setzte mich draußen zu dem Sänger. Wieviel Zeit er brauchen würde, um ein Lied zu dichten, fragte ich ihn. Er antwortete, das käme darauf an, für ein einfaches Preislied würde er manchmal nur ein paar Morgenstunden benötigen. Ein Heldenlied sei schon schwieriger, weil eine Handlung geknüpft werden und viel Sorgfalt auf die Gestalten des Liedes und ihre Sprache gelegt werden müsse. Da sagte ich, es solle ein Heldenlied sein, doch sei die Heldin eine Frau vom Schlage der alten merowingischen Königinnen, die zwei Säkula vor uns gelebt hatten, der Brunichilde und Fredegunde, und auch ihre Taten seien Verbrechen.
Siegram begriff sofort. Es bedurfte nicht vieler Worte, um uns zu verständigten. Seine Aufgabe war es, aus allem, was über Frau Begga bekannt war, eine Handlung zu formen und diese in sangbare Verse zu setzen. Abgesehen von den ungewöhnlichen Umständen war es nicht das erste Mal, dass dem Sänger ein solcher Auftrag erteilt wurde. Mancher adelige Herr wünscht sich ja, die Taten seiner Ahnen besungen zu hören, und es ist oft nur dunkle Kunde, nach der die Dichter ihre Werke gestalten müssen. Je besser ihnen dies gelingt, desto höher ist die Belohnung. Auch in diesem Fall gab es nur wenige sichere Tatsachen, dafür umso mehr Vermutungen und Gerüchte. Der Preis allerdings war der höchste, um den dieser Skop je gedichtet hatte. Es war seine Freiheit.
So nahm Herr Siegram seine Aufgabe überaus ernst. Mit einer Schreibtafel in der Hand fragte er mich aus. Er lief auch, von Fulk begleitet, herum und erkundigte sich bei den Leuten des Castells nach allem, was sie nur irgendwie zum Thema beitragen konnten. Sehr unzufrieden war er mit den Angaben zur Herkunft der Heldin des Liedes. Beinahe wäre daran alles gescheitert, denn es gehört zur Berufsehre eines Skops, nur über Menschen zu berichten, die sich schon von Geburt her vor gewöhnlichen Sterblichen auszeichnen. Er hätte wohl lieber für immer geschwiegen und gelitten, als sich mit dem Makel belastet, jemals ein Heldenlied über einen Mann oder eine Frau aus dem Volke gedichtet zu haben.
So mussten zusätzliche Nachforschungen angestellt werden. Ich wandte mich an den alten Arnfried, der von Hrotbert vorübergehend zum Zentgrafen und Verwalter des Haukschen Benefizes ernannt worden war. Er kam nun oft zum Castell herüber, um die gröbsten Missstände zu beseitigen. Zum Glück war er gut unterrichtet. Frau Begga hatte keine Gelegenheit ausgelassen, den neuen Verwandten ihre vornehme Herkunft vorzuhalten und die schlimmen Wechselfälle zu beklagen, die sie hierher verschlagen hatten. Der alte Uhu, der in drei Tagen drei jüngere Verwandte verloren hatte, erzählte mir alles, was er wusste, traurig mit den Augen zwinkernd, doch ohne eine einzige zornige Aufwallung, mit der unendlichen Nachsicht des Weisen.
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